Brunchgeschichten: Wie es ist, als Nichtwähler aus dem Gemeinderat zu berichten
Unser Redaktor berichtet aus dem Zürcher Gemeinderat, ohne in Zürich das Wahlrecht zu haben. Bisher hat er sich gar nicht gefragt, was das für ihn bedeutet. Bis er selbst gefragt wurde.
Seit kurzem sitze ich für Tsüri.ch im Zürcher Gemeinderat. Mittwoch für Mittwoch schaue ich mir dort die Debatten an, versuche, das Relevanteste herauszufiltern und daraus einen lesbaren Text zu produzieren. Und ich merke: Das ist gar nicht so einfach. Im grossen Gewirr von Motionen, Weisungen und vielen, vielen Postulaten ist es oftmals eine Herausforderung, den Überblick zu behalten. Durch wieviele Instanzen muss ein Geschäft, wenn es in den Gemeinderat kommt? Wer muss darüber alles beraten und wann wird daraus konkrete Realität? Und wer merkt sich den gesamten Inhalt von Textänderungsanträgen?
Je länger ich mich mit dem Gemeinderat beschäftige, desto grösseren Respekt habe ich vor den Politiker:innen, die dort jede Woche sitzen und neben ihrem «normalen» Job in diese komplexen Abläufe eintauchen. Ich bin nicht sicher, ob ich das könnte. Fragt mich mal nach einem Jahr Gemeinderats-Briefing – dann weiss ich das vielleicht besser.
Obwohl: Eigentlich ist die Frage, ob ich das mit der Gemeinderatspolitik könnte, ziemlich irrelevant. Denn nicht nur gehöre ich keiner Partei an und habe in absehbarer Zeit auch nicht vor, das zu ändern. Aber was noch viel wichtiger ist: Ich kann in Zürich weder gewählt werden noch wählen. Und mit noch nicht einmal drei Jahren Aufenthalt in der Schweiz werde ich beides in meinen Dreissigern auch nicht mehr können. Das Wahlrecht hat in Zürich und anderen Deutschschweizer Gemeinden erst, wer den roten Pass hat. Anders ist das in vielen Städten der Romandie: Dort dürfen Ausländer:innen zwar nicht gewählt werden, doch immerhin auf kommunaler Ebene wählen.
Kürzlich wurde ich gefragt, wie ich das denn fände, wöchentlich quasi im Maschinenraum der Kommunalpolitik zu sitzen und gar kein Wahlrecht zu haben. Ich muss zugeben, ich hatte mir darüber bis dahin noch gar keine grossen Gedanken gemacht. Über etwas zu berichten, an dem man nicht aktiv teilhat, ist ja quasi der Kern des journalistischen Alltags: Der Blick von aussen ermöglicht ja im besten Falle das Erkennen von Mustern, von Problemen, von spannenden Geschichten.
«Es gibt eine ganze Menge Menschen in Zürich, denen es egal zu sein scheint, wer die Geschicke in der Stadt lenkt.»
Steffen Kolberg, Redaktor
Was ich im Gemeinderat erkenne, sind 125 Menschen, die sich in einem eingespielten Prozedere durch teilweise hochkomplexe Themen wühlen und Entscheidungen treffen. Sie tun das als Repräsentant:innen der gesamten Stadtbevölkerung, damit diese sich nicht durchwühlen muss. Doch gewählt haben sie bei den Wahlen im Februar 2022 lediglich knapp 43 Prozent der etwas über 230'000 wahlberechtigten Zürcher:innen. Rechnet man mit der Gesamtbevölkerung, nimmt also noch die ganzen Ausländer:innen und Unter-18-Jährigen mit in die Rechnung, wurden die Gemeinderät:innen von nicht einmal 25 Prozent der Zürcher:innen gewählt.
Es gibt also eine ganze Menge Menschen in Zürich, denen es egal zu sein scheint, wer die Geschicke in der Stadt lenkt. Oder die zumindest darauf vertrauen, dass die wählende Minderheit sich schon für die Richtigen entscheidet. Ich gehöre zu dem knappen Drittel der Stadtbevölkerung, das aufgrund des fehlenden roten Passes darauf vertrauen muss. Auch wenn ich mich inzwischen durchaus befähigt fühle, eine fundierte Wahlentscheidung zu treffen.
Ich denke durchaus, dass es gut ist, als Ausländer:in zunächst einen Einblick in die Funktionsweise des politischen Systems hierzulande zu bekommen, bevor man hier wählen kann. Ich denke aber auch, dass man dafür nicht über zehn Jahre bis zur Einbürgerung braucht – die fünf Jahre bis zur C-Bewilligung reichen locker aus. Dass der Regierungsrat die Initiative von Stadtpräsidentin Corine Mauch im letzten Jahr abgelehnt hat, das auf kommunaler ändern zu können, zementiert – wie übrigens auch die Ablehnung des Stimmrechtsalters 16 – eine widersprüchliche Situation: Während es in Zürich einige gibt, die gerne mitbestimmen würden, aber nicht können, gibt es viele, die zwar können, aber nicht wollen. Solange Zürich nicht etwas mehr Romandie wagt, bleibe ich jedenfalls bis auf Weiteres Beobachter.
Sein Studium in Politikwissenschaften und Philosophie in Leipzig brachte Steffen zum Journalismus. Als freier Journalist schrieb er für die WOZ, den Tagesspiegel oder die Schaffhauser AZ. Laut eigenen Aussage hat er «die wichtigste Musikzeitschrift Deutschlands, die Spex, mit beerdigt». Seit 2020 ist Steffen bei Tsüri.ch. Sein Interesse für die Zürcher Lokalpolitik brachte das wöchentliche Gemeinderats-Briefing hervor. Nebst seiner Rolle als Redaktor kümmert er sich auch um die Administration und die Buchhaltung.
Das mache ich bei Tsüri.ch:
Buchhaltungsordner wälzen, mich im Zürcher Gemeinderat durch's Buffet naschen und mir die Nächte beim Briefingschreiben um die Ohren schlagen. Ausserdem an meinen Abschiedsgrussformeln arbeiten.
Das mache ich ausserhalb von Tsüri.ch:
Die Agglo erkunden.
Über diese Themen schreibe ich am liebsten:
Darum bin ich Journalist:
Ich habe Interesse an fast allem und allen – die wichtigste Grundvoraussetzung für Journalismus.
Das mag ich an Zürich am meisten:
Den Beton. Und die Limmat.