Brunchkolumne: Weshalb Aufbruch auch schmerzvoll sein kann - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Milad Al-Rafu

Freier Journalist

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13. März 2022 um 06:00

Brunchkolumne: Weshalb Aufbruch auch schmerzvoll sein kann

In der heutigen Brunchkolumne geht es um Aufbruch. Das klingt zwar erstmal nach Hoffung, heisst aber auch: Zurücklassen, schmerzhaftes Verabschieden, Bewegungen, die von aussen zwar bestimmt aussehen, jedoch ganz andere, innere Bewegungen verschleiern: Ein Karussell im Kopf, das sich rasend schnell bewegt und die immer gleichen Fragen aufwirft: Ist das die richtige Entscheidung?

Illustration: Zana Selimi

Aufbruch: Das klingt nach Hoffnung; nach optimismusgetriebener Bewegung; nach vorwärtsgerichtetem Handeln, Augen fixiert auf das neue Ziel, die Vergangenheit als sanfter Schleier, verschwommene Konturen, die sich einzig in den Augenwinkeln noch bemerkbar machen.

Aufbrechen als Gegenstück zu Aufraffen. Im letzteren Fall scheint sich das Gewicht der ganzen Welt auf dem eigenen Körper zu manifestieren, jeder Schritt mühselig, bleiern, als würde man durch Zuckerwatte waten, nur das sich alles klebrig anfühlt, ohne den süsslichen Geschmack und die kindliche Freude. Leichtes Gepäck, beschwingte Schritte, kein Hadern im Geiste bemerkbar, vielmehr ein Körper, dessen jede Faser sich dem Vorwärtskommen in eine bessere Zukunft verschrieben hat.

Aufbruch führt zu Bruchstellen

So stellen wir uns den Aufbruch vor. Doch wie so oft unterscheiden sich Vorstellung und Realität, Assoziation und der harte Boden der Tatsachen. Denn Aufbrechen heisst leider auch Zurücklassen, schmerzhaftes Verabschieden, Bewegungen, die von aussen zwar bestimmt aussehen, jedoch ganz andere, innere Bewegungen verschleiern: Ein Karussell im Kopf, das sich rasend schnell bewegt und die immer gleichen Fragen aufwirft: Ist das die richtige Entscheidung? Wieso nicht noch ein bisschen warten, bis sich der optimale Zeitpunkt ergibt? Wohlwissend, dass dieser nicht existiert.

Dass Aufbrechen nie einfach ist, lässt schon das Wort selbst erahnen: Aufbruch führt zu Bruchstellen, materiellen wie biographischen und seelischen. Brüche treten körperlich zu Tage, als Narben, welche als sichtbare Male den Grund für den Aufbruch dokumentieren oder in Form von Verletzungen, die erst noch entstehen werden. Genau so schmerzhaft ist die Endgültigkeit des Aufbruches: Eine Umarmung wird das letzte Mal vollzogen, die Tür das letzte Mal verschlossen, die Füsse spüren das letzte Mal die altbekannte Strasse. Alles scheint aufgeladen an Bedeutungen zu sein: Das Wetter, schlecht oder gut, dient als Indikator für die neue Zukunft. Der Bäckerin ist das Brot ausgegangen, der Geruch des Lieblingsessens weht durch die Strassen, in der Ferne hört man das Jaulen eines Hundes.

«Anders als ein Bruch, der einen ganzen Menschen zu verschlingen vermag, vermögen einzelne kleine Brüche, gleichmässig von allen getragen, das Fundament nicht zu erodieren.»

Milad al Rafu

Nichts ist mehr willkürlich, alles geheime Zeichen, deren Bedeutungen sich noch nicht erschliessen. Wie können wir also, wissend um diesen geballten Schmerz, einem einzelnen Menschen diese alleinige Verantwortung aufbürden? Eine Verantwortung zur Entscheidung, prägend für das ganze weitere Leben sowie bestimmend über den Ausgang der eigenen Geschichte. Wie heisst es doch so schön: Geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Wenn nun das Lindern von menschlichem Leid geboten ist – wie wir immerzu betonen – haben wir analog hierzu doch einen Teil des Weges entgegenzukommen. Nicht als Einzelpersonen, sondern als Kollektiv: Aufbruchsstimmung hat in den Köpfen der Menschen hier Einzug zu halten, hat das Parlament dieses Landes zu füllen, durch die Institutionen zu wehen.

Auch wenn dies bedeutet, Bruchstellen zu kreieren, Ängste aushalten zu müssen, sich der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verschreiben, ohne Garantie hierfür. Doch anders als ein Bruch, der einen ganzen Menschen zu verschlingen vermag, vermögen einzelne kleine Brüche, gleichmässig von allen getragen, das Fundament nicht zu erodieren. Daran glaube ich.

Brunchgeschichten

Tsüri.ch startet eine neue Kolumne! Dieses Mal direkt aus dem Büro an der Glasmalergasse zu dir nach Hause an den Frühstückstisch. Ab jetzt liefern dir Simon, Elio, Ladina, Alice, Isa, Nico, Steffen, Seraina, Rahel, Jonas, Sofie und Emilio jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Sonntagsbrunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

1. Warum ich abhaue, ohne Tschüss zu sagen

2. Weshalb zu einer Stadt Lärm gehört

3. Warum Tattoos keinen Sinn machen müssen

4. Warum wir seltener in den Club gehen sollten

5. Warum ich meinen Geburtstag so mag

6. Weshalb wir alles andere als wild sind

7. Warum wir öfters Langweiler:innen sein sollten

8. Weshalb ich nicht in meiner Bubble bleiben will

9. Warum eigentlich Berlin?

10. Warum ich keine Flohmis mag

11. Weshalb wir über unsere Körper sprechen sollten

12. Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»

13. Warum ich fast immer zu Fuss gehe

14. Warum ich mein Sternzeichen nicht kenne

15. Weshalb der Dezember ohne Weihnachten nur ein zweiter Januar wäre

16. Mit der Deutschen Bahn von Zürich nach Berlin – ein 12-stündiges Abenteuer

17. Wieso ich Brunch blöd finde

18. NZZ & FDP gegen den Rest

19. Fomo? Jomo!

20. Endlich eine Bachelorette

21. Warum ich mich am Hobby meiner Freund:innen störe

22. Der Konsumkritik zum Trotz oder weshalb ich Geschenke mag

23. Wieso Langlaufen mehr als nur ein Boomer-Sport ist

24. Der brennende Tannenbaum auf dem Bullingerplatz – und was ich (nicht) damit zu tun habe

25. Warum Sex für viele Zürcher:innen ein Tabuthema bleibt

26. Warum ich die «Generation Z» bewundere

27. Warum ich nicht (nur) im Jetzt leben will

28. Warum ich trotz Massnahmenlockerungen Spielverderber bin

29. Weshalb männliche E-Mountainbiker toxisch sind

30. Oh Hardbrücke, du schönste unter den hässlichsten Brücken!

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