Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Seraina Manser

Community-Verantwortliche

emailinstagram logotwitter logo

26. September 2021 um 07:11

Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»

Statt Ankerbier trinken auf einmal alle Naturwein, haben Hunde oder Kinder und wissen, was sie am Samstag in drei Monaten unternehmen. In der heutigen Brunchgeschichte merkt Seraina Manser, dass auch sie älter wird.

Mood image for Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»

Ich schwör’s dir. Erst noch war ich 24. Ich wohnte in einer WG, studierte und trampte in den Ferien mit dem Zelt durch die korsischen Berge. Niemand hatte viel Geld, aber das Leben machte mindestens soviel Spass wie heute.

Dann bin ich eines Tages aufgewacht und war auf einmal 30. Zwei Freund:innen kauften sich Hunde, zwei Bekannte wurden Eltern. Das Wort «Hyaluronsäure» hatte ich noch nie so oft gehört, wie in dem Jahr als ich 30 wurde. Ich war also 30! Nicht, dass ich mir viel aus Zahlen machen würde, aber während mehreren Erlebnissen und Gesprächen wurde mir bewusst: Wir werden alle älter und damit gleichzeitig auch weniger abenteuerlustig und weniger spontan. Ich persönlich glaube ja, dass die Pandemie diese Entwicklung in meinem Freund:innenkreis noch beschleunigt hat.

Früher stieg fast jedes Wochenende irgendwo eine WG-Party. Wir hatten in meiner WG an der Langstrasse mal die Badewanne bis oben mit Ankerbierdosen gefüllt und bestimmt um die 70 Leute in der 4-Zimmerwohnung. Dass wir am nächsten Tag die ganze Bude putzen mussten und der Boden auch nach drei Mal feucht Aufnehmen noch klebrig war, hat uns damals nicht gestört.

Heute kann ich mich beim besten Willen nicht mehr an meine letzte WG-Party erinnern. Kein Wunder, wohnt in meinem Alter doch fast niemand mehr in einer WG. Und falls doch, dann ist es entweder eine kultivierte Wohngemeinschaft mit graphischem Druck über dem Designersofa und Kristallweingläsern oder eine, die einfach «Null Bock auf die Sauerei» oder Zoff mit den Nachbar:innen hat.

Schade eigentlich, denn haben wir in den verrauchten Küchen, eingequetscht zwischen Spülbecken und Säcken gefüllt mit Altglas, nicht die «deepsten» Gespräche überhaupt geführt?

Apropos Altglas, ein weiteres Indiz dafür, dass wir älter (und reicher) werden: Wer etwas auf ihre:seine Gesundheit hält, schlürft nicht einfach einen Wein aus dem Denner, ausgewählt nach der bewährten «Diese-Etikette-sieht-noch-hübsch-aus»-Taktik, sondern Naturwein. Vor allem auch, weil man am nächsten Tag davon kein Kopfweh bekomme. Auf einmal wird zum Abendessen eine Flasche mit schummrigen Inhalt kredenzt.

Die Etikette würde bestimmt einen Designpreis gewinnen und den guten Tropfen hat man bei einem ganz in schwarz gekleideten Sommelier erstanden, über dessen Lippen Worte wie knackig, subtil und «salzige Nuancen» kamen. Am nächsten Tag habe ich trotzdem einen schummrigen Kopf und denke zurück an die Zeiten, als mir sogar der billigste Sangria mundete.

Aber beim Wein ist es wie bei der Bettwäsche aus Bio-Leinen, hat man sich erst mal an die gute Qualität gewohnt, gibt es kein Zurück mehr.

Ein weiteres Indiz für das fortschreitende Alter ist die damit einhergehende Un-Spontaneität: So weiss ich, dass ich am 27. November 2021 zum Raclette-Essen verabredet bin. Das. Ist. In. Mehr. Als. Zwei. Monaten! Früher wusste man am Freitag nicht, was man am Samstag vorhatte. Aber weil es allen so ging, hatte man dann doch etwas vor. Und spontan entstanden die erinnerungswürdigsten Nächte.

Ich will nicht lamentieren. Das Älterwerden gehört dazu. Nichtsdestotrotz will ich versuchen, spontan zu bleiben, kein Abenteuer auszuschlagen und bald mal wieder an einer WG-Party an einem Ankerbier zu sippen.

Brunchgeschichten
Tsüri.ch startet eine neue Kolumne! Dieses Mal direkt aus dem Büro an der Glasmalergasse zu dir nach Hause an den Frühstückstisch. Ab jetzt liefern dir Simon, Elio, Zana, Jenny, Isa, Nico, Seraina, Rahel, Jonas und Emilio jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Sonntagsbrunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

1. Warum ich abhaue, ohne Tschüss zu sagen
2. Weshalb zu einer Stadt Lärm gehört
3. Warum Tattoos keinen Sinn machen müssen
4. Warum wir seltener in den Club gehen sollten
5. Warum ich meinen Geburtstag so mag
6. Weshalb wir alles andere als wild sind
7. Warum wir öfters Langweiler:innen sein sollten
8. Weshalb ich nicht in meiner Bubble bleiben will
9. Warum eigentlich Berlin?
10. Warum ich keine Flohmis mag
11. Weshalb wir über unsere Körper sprechen sollten
12. Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»
Das könnte dich auch interessieren