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Von Sonya Jamil

Praktikantin Redaktion

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5. Dezember 2021 um 05:00

Brunchgeschichten: Endlich eine Bachelorette

Ein wunderschönes Kleid, sorgfältig aufgetragenes Make-Up, Rosen in der Hand und ein strahlendes Lächeln: Für die einen der Hochzeitstag, für andere eine Dating-Show, für unsere ehemalige Redaktionspraktikantin die Bachelor-Abschlussfeier. Eine Brunchgeschichte über Nostalgie und Zukunftsängste.

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Illustration: Zana Selimi

«Geh studieren!», beharrten meine Eltern vor vier Jahren. Glaubt man ihnen, ist das Student:innen-Dasein das Geheimrezept für ewige Jugend und mit einem Bachelor steht einem die ganze Welt offen.

Genau diese Welt lächelt zurzeit jedoch nur höflich, wenn ich in einem Nebensatz meinen Abschluss erwähne, während die Frage nach dem Master wie aus der Pistole geschossen kommt. Man könnte meinen, der Bachelor sei die Berufsmatur der Akademiker:innen. Hätte ich doch lieber Medizin statt Sprachen studiert, so meine kurdische Verwandtschaft.

Klar, ich rette keine Leben, aber wenn ich die Texte meiner Familie und Freund:innen lektoriere, bewahre ich sie zumindest vor dem gesellschaftlichen Tod. Wie dem auch sei: Vier Jahre büffeln, lachen, weinen, verzweifeln und schliesslich abschliessen passen in keinen Nebensatz, sondern nur in eine Brunchgeschichte!

Einige Wochen vor der Diplomfeier tendierte ich kurz zu ‹Diplomierte Klugscheisserin›.

Sonya Jamil

Instagram-Caption geht vor

Als ich an meinem ersten Tag an der Fachhochschule einen Fragebogen ausfüllte, klickte ich bei «Wissen Sie schon, was Sie nach dem Studium machen wollen?» selbstbestimmt auf «Nein» und dachte mir bereits die Instagram-Caption für meine Diplomübergabe aus.

Na ja, so richtig weiss ich es immer noch nicht. Viel wichtiger ist ja wohl die gewählte Instagram-Caption: Ich blieb über die Jahre hinweg standhaft, entschied mich damals schon für «Finally a Bachelorette» und kriegte mich über so viel Genie gar nicht mehr ein.

Einige Wochen vor der Diplomfeier tendierte ich kurz zu «Diplomierte Klugscheisserin» oder «The only Bachelor I’m gonna get», als Anspielung auf mein Single-Dasein. Aber dann wollte ich mich an meinem grossen Tag lieber doch nicht dissen und überhaupt habe ich mich hier sowieso schon genug über mein Liebesleben ausgelassen.

Nächste Stunde: Socialising

Ich habe in meinen Studium viel über Kommunikation gelernt. Während aber meine Mitstudent:innen schon bald in Fremdsprachen träumten, war für mich das Studium der Hotspot für soziale Kontakte. Einer meiner stolzesten Momente war, als mich Ende der ersten Schulwoche im Flur bereits fünf Leute im Vorbeigehen beim Namen grüssten.

Ich vermisse die tiefsinnigen, witzigen, amüsanten, tiefschürfenden, eleganten, trübseligen Gespräche und das Gelächter in der Uni-Mensa, während ich frisch fröhlich meine «Hörnli mit Ghacktem und Öpfelmues» aus dem Glasbehälter ass, in den Vorlesungen einnickte und für ein wenig Dopamin in den Seminaren mein hart verdientes Nachhilfe-Geld online für Ohrringe verprasste.

Kein Wunder packen alle ihre Taschen und gehen nach Indien oder Honolulu, um Soul-Searching zu betreiben.

Sonya Jamil

Trotz meiner ausgeprägten sozialen Ader war mir der Schulstoff doch sehr wichtig. So verzichtete ich auf meine erste Student:innenparty, um den allerletzten Zug nach Hause zu erwischen und pünktlich um 8 Uhr morgens wieder im Englisch-Unterricht zu sitzen. Eine wahnsinnig dumme Entscheidung, wenn man bedenkt, dass ich trotz aller Disziplin durch das Grundstudium gerasselt bin.

Let it go

Als «Social Butterfly» empfand ich die Pandemie und die daraus resultierenden drei Online-Semester als Schlag ins Gesicht. Doch ich wollte mir von nichts und niemandem mein Abschluss-Semester vermiesen lassen; ich organisierte dementsprechend anfangs Jahr einen Chatroom mit und für meine Mitstudent:innen, trommelte am letzten Schultag so viele Studentin:innen wie wollten zu einem Get-Together zusammen.

Dazu erstellte ich eine Video-Montage der letzten vier Studienjahre, machte unzählige Instagram-Stories mit Countdowns bis zum Abschluss, feierte die Abgabe der Bachelorarbeit mit Burger und Cola, das Bestehen der Arbeit mit Drinks und Karaoke und veranstaltete eine Bachelorette-Party, die ihrem Namen alle Ehre machte.

Das alles passierte noch vor der offiziellen Diplomfeier, für die ich mir extra einen Tag frei nahm, um mich, für ein paar Sekunden im Scheinwerferlicht, von Kopf bis Fuss zu renovieren. Wer es noch nicht gemerkt hat: Ich bin nicht sonderlich gut darin, Dinge loszulassen.

Die Sache mit der Freiheit

Unvorstellbar, aber es gibt auch noch ein Leben nach Studienabschluss. Doch wie sieht das aus? Mit Anfangs 20 in seinem winzigen Studio jeden Abend Fast Food herunterschlingen, sowie wenig zu schlafen und miserable Zeitmanagement-Skills zu haben, lässt sich solange als Student:innen-Dasein verkaufen, bis man das letzte Mal die Schulbank gedrückt hat, langsam aber sicher gegen Ende 20 steuert und die Ansprüche zwar steigen, aber die schlechten Angewohnheiten hartnäckig an den Fersen haften.

In der Zwischenzeit habe ich zumindest zwei Bachelors: Einen im Fernseher und einen in der Tasche.

Sonya Jamil

Fragt man die Instagram-Gurus, so verkünden sie freudestrahlend, dass man in ungewissen Zeiten auf sein Herz hören soll. Die kleingedruckte kapitalistische Realität sieht jedoch so aus: «Bitte achten Sie darauf, dass ihr Herz zu Bürozeiten von nine-to-five schlägt, vielen Dank».

Kein Wunder packen alle ihre Taschen und gehen nach Indien oder Honolulu, um Soul-Searching zu betreiben. Diese Art von Freiheit ist jedoch unter anderem abhängig vom Kontostand und der körperlichen Ausdauer, den Berg besteigen zu können, von dem man später verträumt runterblickt. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heisst es so schön; momentan bin ich aber eine Spur zu zynisch und verbohrt, um den zu sehen.

Ich kann mir noch nicht vorstellen, hier in Zürich gar die Zelte abzubrechen. Ein gutes halbes Jahr nach dem Abschluss bin ich damit beschäftigt, mich in der Arbeitswelt zurechtzufinden, Lohnverhandlungen zu führen, für mich einzustehen und ein kleines bisschen erwachsener zu werden.

Keine Ahnung, wo es mich in Zukunft hin verschlägt, aber in der Zwischenzeit habe ich zumindest zwei Bachelors: Einen im Fernseher und einen in der Tasche.

Brunchgeschichten
Tsüri.ch startet eine neue Kolumne! Dieses Mal direkt aus dem Büro an der Glasmalergasse zu dir nach Hause an den Frühstückstisch. Ab jetzt liefern dir Simon, Elio, Zana, Jenny, Isa, Nico, Seraina, Rahel, Jonas und Emilio jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Sonntagsbrunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

1. Warum ich abhaue, ohne Tschüss zu sagen
2. Weshalb zu einer Stadt Lärm gehört
3. Warum Tattoos keinen Sinn machen müssen
4. Warum wir seltener in den Club gehen sollten
5. Warum ich meinen Geburtstag so mag
6. Weshalb wir alles andere als wild sind
7. Warum wir öfters Langweiler:innen sein sollten
8. Weshalb ich nicht in meiner Bubble bleiben will
9. Warum eigentlich Berlin?
10. Warum ich keine Flohmis mag
11. Weshalb wir über unsere Körper sprechen sollten
12. Warum ich wieder mehr Ankerbier statt Naturwein trinken will oder «Auch ich werde älter!»
13. Warum ich fast immer zu Fuss gehe
14. Warum ich mein Sternzeichen nicht kenne
15. Weshalb der Dezember ohne Weihnachten nur ein zweiter Januar wäre
16. Mit der Deutschen Bahn von Zürich nach Berlin – ein 12-stündiges Abenteuer
17. Wieso ich Brunch blöd finde
18. NZZ & FDP gegen den Rest
19. Fomo? Jomo!
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