Brunchgeschichten: Wieso ich manchmal nicht abstimme
Tsüri-Praktikantin Sofie ist von vielen Menschen umgeben, die gleich oder sehr ähnlich denken wie sie. Ein Umfeld, in dem sie sich meistens wohl und selten allein fühlt. In der heutigen Brunchgeschichte hinterfragt sie ihre eigenen Überzeugungen und erzählt, wieso sie den Stimmzettel neu auch manchmal leer lässt.
Heute ist es fast auf den Tag ein Jahr her, dass ich im «Tages-Anzeiger» zitiert wurde. Das klingt jetzt glamouröser, als es tatsächlich war. Die «Ehre» wurde mir zuteil, weil ich letztes Jahr am Frauenstreik ein Podium, unter anderem mit der Zürcher Aktivistin Anna Rosenwasser, besucht hatte. Ein paar Tage darauf erschien ein Portrait über sie in besagter Zeitung. «Kennen sie das Gefühl, sich bei einer Diskussion arrogant zu fühlen, weil man sich seiner Meinung so sicher ist?», wurde ich mit meiner Frage als namenlose Zuschauerin des Podiums zitiert.
Eine Frage, die mich schon länger beschäftigt und aus der die Erkenntnis resultiert, dass ich zum Teil so festgefahren in der eigenen Meinung bin, dass ich arrogant werde. Arrogant gegenüber Anderen und arrogant gegenüber anderen Ansichten. Dabei würde ich gerne über mich sagen können, dass ich aufgeschlossen gegenüber Neuem und Anderem bin. Dies trifft vielleicht bei den Themen Essen, Religion oder Unterwäsche zu, aber sicherlich nicht bei Politik. Dort werfe ich viel zu schnell mit Begriffen wie «rechter Sack» um mich.
It's a prank, isn't it?
Regelmässig erwische ich mich dabei, wie ich denke, dass rechte Parteien ihre getätigten Aussagen nicht ernst meinen können. Weil die Ansichten, die sie vertreten, von meiner eigenen Lebensrealität so weit weg sind, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Stattdessen denke ich manchmal allen Ernstes, dass das Ganze ein Prank sein muss. Ein jahrzehntelanger Scherz, um die Schweizer Bevölkerung auf den Arm zu nehmen.
Dies mag im ersten Moment witzig klingen, aber eigentlich macht es mir Angst. Schliesslich sind es nicht wenige Menschen in der Schweiz, die zumindest mit einem Teil dieser Ansichten übereinstimmen. Ich finde es beängstigend, dass ich für die Beweggründe dieser Menschen kein Verständnis finde. Denn ich bin mir sicher, dass sie ihre Gründe dafür haben, seien sie nun berechtigt oder nicht. Doch es ist mir unmöglich, mich in sie hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, was sie bewegt. So sollte es doch nicht sein, oder? Geht es den anderen umgekehrt auch so? Ich möchte ja auch, dass man für meine Anliegen Verständnis findet, wieso fällt es mir dann so schwer dasselbe für die Gegenseite zu tun?
Andere politische Ansichten? Fehlanzeige!
Ich stecke ziemlich tief in meiner «öko-sozi-züzi»-Blase drin, wie sie ab und zu von bösen Zungen genannt wird. Versteht mich nicht falsch, ich liebe dieses Umfeld. Ich fühle mich darin Zuhause und meistens bin ich sehr froh um meine Bubble. Ich muss mit meinen Bekannten nicht um Grundlegendes streiten, sondern kann über verschiedene Möglichkeiten angeregt diskutieren – ganz einig ist man sich ja doch nie. Aber gänzlich verschiedene politische Ansichten? Fehlanzeige. Von Koordinaten weiter rechts im Spektrum bekomme ich nur sehr wenig mit – es sei denn die Forderungen sind so extrem, dass sie wiederum auf der linken Seite einen Aufschrei auslösen.
Dabei erinnere ich nur ungern an das Propagandavideo, das die SVP vergangenen Sommer mit der Welt teilte. Darin zu sehen: Ein kleines Mädchen, das die Schweiz durch so verdrehte Augen sieht, dass es kaum ihr eigener Blickwinkel sein kann. Gesehen habe ich das Video nicht etwa, weil ich Andreas Glarner auf Instagram folge, wobei Dubai von oben natürlich ein wunderbarer Anblick ist.
Nein, das Video geschaut habe ich nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung, weil es sich auch in linken Kreisen wie ein Lauffeuer verbreitete – dabei hätte ich auf dieses cinematographische Wunderwerk gut verzichten können.
Dass aber nicht alles, was von anderen politischen Lagern kommt, in mir gleich Übelkeit auslösen muss, zeigte mir die Geschichte mit dem Wolf. Dieser öffnete mir ein bisschen die Augen. Also natürlich nicht der Wolf höchstpersönlich, sondern die Schweiz, als sie 2020 über eine Revision des Jagdgesetzes abstimmte. Dass ich im Sommer 2020 nicht stimmberechtigt war, hielt mich natürlich nicht davon ab, lautstark mitzudiskutieren.
Meine eigene Perspektive ist nicht immer genug, um eine Meinung zu bilden
Sofie David
Sehr viel später erst schaute ich eine Sendung des Clubs über die vermeintliche politische Entfremdung von Land und Stadt. Ein Thema, das dabei immer wieder aufkam, war natürlich der Wolf, denn kaum eine Debatte vermag es, die starken Differenzen zwischen Stadt und Land so stark sichtbar zu machen.
Etwas, das mir von der Sendung besonders in Erinnerung blieb, ist die Erkenntnis, selbst nicht wirklich berechtigt zu sein, sich zum Thema zu äussern. Ja, mir ist Artenschutz wichtig, da geht es mir wie den restlichen 99 Prozent der Bevölkerung. Doch die einzige Konfrontation, die ich in meinem Leben mit einem Wolf hatte, war als Kind im Theater – was wohl kaum zählen dürfte. In der Stadt Zürich aufgewachsen, ist die Bedrohung durch den Wolf für Schafherden für mich nur ein abstraktes Konstrukt. Dass es für andere Menschen zum Alltag gehört und dass meine eigene Perspektive nicht genügt, um über den Umgang mit dem Wolf zu entscheiden, wurde mir erst da bewusst.
Dabei wurde mir klar, dass es manchmal auch okay ist, mich für keine Seite zu entscheiden. Dass es total legitim ist, ein Antwortfeld im Stimmcouvert leer zu lassen.
Auch keine Meinung ist eine vertretbare Meinung.