«Ich laufe durch Zürich, sehe Sauberkeit, Ruhe. Doch die Welt brennt»

Freundschaften tragen uns durch Krisenzeiten. Deshalb sei es wichtig, Räume zu schaffen, in denen Nähe und Vertrauen entstehen könnten, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Hannan Salamat. Wie das gelingt, erklärt sie in ihrem Kolumne-Debüt.

Wir sollten anfangen, Freundschaft als politische Praxis zu denken, findet unsere Kolumnistin Hannan Salamat. (Bild: Isabel Brun)

Bei einem heissen Glas Çay, manchmal auch iced Matcha, höre ich in Gesprächen mit meinen Freund:innen in den letzten Jahren immer wieder denselben Satz: Krise ist kein Ausnahmefall mehr, sie ist zum Dauerzustand geworden. Dieses Gefühl begleitet viele durch den Alltag, auch mich selbst. Gleichzeitig spüre ich eine seltsame Dissonanz.

Ich laufe durch Zürich, sehe Sauberkeit, Ruhe, schöne Fassaden. Alles wirkt geordnet und harmonisch. Und doch weiss ich: Die Welt brennt.

Kriege, systematische Vernichtungen, bröckelnde Demokratien. Autoritäres Denken wird wieder salonfähig, und die Klimakrise brennt sich mit immer neuen Hitzewellen ein. Inmitten dieser Erschütterungen suche ich nach kleinen Orten, die tragen. 

Ich kuratiere Räume zwischen Kunst und Gesellschaft, zwischen Erinnerung und Futurismus. Dabei bewege ich mich zwischen dem deutschsprachigen transalpinen Raum, zwischen Institutionen und Communitys, zwischen Festivals und Stadtverwaltungen.

In meiner Arbeit geht es oft um Pluralität, Erinnerungskultur, Antirassismus und um die Frage, wie wir im Gespräch bleiben, selbst wenn die Welt um uns herum auseinanderzufallen scheint. 

Diese Kolumne soll ein Ort des lauten Nachdenkens sein. Ein Raum, in dem Fragen im Vordergrund stehen, statt fertige Antworten.

Wie können zwischenmenschliche Beziehungen in Krisenzeiten Räume schaffen, in denen Nähe und Vertrauen entstehen können, selbst wenn gesellschaftliche Regeln uns eigentlich voneinander fernhalten?

Wie verhindern wir, dass Offenheit in Beliebigkeit umschlägt? Wie halten wir fest, dass Würde und Überleben niemals verhandelbar sind?   

Freundschaft ist nicht nur Privatsache, sondern auch eine politische Praxis. Die Sozialwissenschaftlerin Bahar Oghalai und die Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela nennen sie in ihrem Band «Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen Praxis» aus dem Jahr 2023 eine Poesie, die die «Grammatik» gesellschaftlichen Regeln unterläuft.

Gemeint ist, dass unsere Gesellschaft Beziehungen meist in festen Kategorien ordnet – Ehen, Familie, heteronormative Intimität, ökonomische Nützlichkeit. Freundschaft entzieht sich gemäss den Wissenschaftlerinnen aber dieser Ordnung.

Sie erlaubt Nähe, Solidarität und Begehren jenseits solcher Regeln und das ist ihre politische Kraft: Es werden Räume geöffnet, die anders funktionieren. Sie sind offener, fragiler und gleichzeitig widerständiger.

«Freundschaft ist nichts, das einfach geschieht. Sie muss gesucht, erkämpft, gepflegt werden.»

Hannan Salamat

Regeln, die nicht allgemeingültig sind, wie ich selbst erfahren musste. Mit Anfang 30 bin ich von München nach Zürich gezogen. Uns Münchner:innen wird Verschlossenheit nachgesagt, und dass es schwer sei, bei uns Anschluss zu finden.

Doch in Zürich merkte ich recht schnell, dass es noch schwieriger sein kann. Mein Ankommen dauert inzwischen acht Jahre an und ich musste lernen, dass hier vieles nach anderen Codes läuft: Selbstoptimierung, Terminkalender, Abmachungen ein halbes Jahr im Voraus, um sie doch noch kurzfristig abzusagen, weil es doch noch eine effizientere Alternative gab.

Freundschaft wirkt oft wie ein Projekt, das sich nach Nützlichkeit und Verfügbarkeit richtet. 

Ich werde das Gefühl nicht los, dass es den Menschen hier «zu gut» geht, um sich wirklich auf andere einzulassen. Für mich ist das Ringen um Verbundenheit in Zürich ein Spiegel für die grösseren Fragen, wie wir überhaupt Beziehungen bauen in einer Welt, die dauernd wankt.

Gerade in Krisenzeiten macht das den Unterschied: Freundschaft ist nichts, das einfach geschieht. Sie muss gesucht, erkämpft, gepflegt werden. Freundschaft bedeutet dann nicht aufzugeben, auch wenn einem Nähe schwerfällt. Immer wieder Räume zu öffnen, in denen Vertrauen wachsen kann, manchmal gegen alle gesellschaftlichen Codes.

«Ich habe die Mehrheit meiner Freundschaften an Orten gefunden, die nicht effizient waren, sondern lebendig. »

Hannan Salamat

Vielleicht treibt mich diese Erfahrung als Münchnerin in Zürich so sehr an, weil sie zeigt, dass Freundschaft selbst eine Form von Widerstand ist gegen Vereinzelung, gegen neoliberalen Druck zur Selbstoptimierung, gegen das Gefühl, dass wir es uns in unsere vermeintliche Sicherheit zu bequem gemacht haben.

Sie erinnert mich daran, dass Verbundenheit nicht selbstverständlich ist, sondern eine Praxis. Und dass genau diese Praxis uns in Krisenzeiten tragen kann. Darum gestalte ich in meine Arbeit Räume, die genau das erproben.

Egal, ob das Projekt «not_your_bubble» oder das Transalpine Festival: Ich möchte Formate, die keine fertigen Antworten liefern, sondern Begegnungen ermöglichen. Orte, an denen Differenzen sichtbar bleiben dürfen, und in denen trotzdem Nähe entsteht.

Ich selbst habe die Mehrheit meiner Freundschaften in meinen Dreissigern in diesen Räumen gefunden, an Orten, die nicht effizient waren, sondern lebendig. Vielleicht sind sie nichts anderes als tastende Versuche, Freundschaft als politische Praxis zu denken, bei einem gemeinsamen Glas Çay, während draussen die Welt brennt. 

Ein kleiner Raum, der trägt, nicht weil er Antworten gibt, sondern weil er Verbindung schafft.

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