Abstimmung zur Mobilitätsinitiative: Werden es die Frauen nochmals richten?
Am 30. November entscheidet die kantonale Stimmbevölkerung über die Mobilitätsinitiative – und damit über die Frage, ob Gemeinden weiterhin selbstständig Tempo 30 einführen dürfen. Warum der Verkehrsforscher Thomas Hug-Di Lena dabei auf die Vernunft der Frauen hofft, erklärt er in seiner neuesten Kolumne.
Manchmal gibt es Abstimmungen, die sind so komplex, dass man sie dreimal lesen muss, um zu verstehen, worum es geht. Und dann gibt es solche, die auf den ersten Blick harmlos wirken – deren Konsequenzen aber weit über das hinausgehen, was auf dem Stimmzettel steht. Die sogenannte Mobilitätsinitiative der SVP fällt in die zweite Kategorie. Schon der Titel ist eine grandiose Täuschung.
Vordergründig geht es darum, wer künftig bei Tempo 30 das Sagen hat: der Kanton oder die Gemeinden. Doch hinter der nüchternen Zuständigkeitsfrage steckt ein grundlegender Konflikt über die Richtung der Verkehrspolitik.
Sollen Strassen vor allem dem Fahren dienen – oder auch dem Leben? Und es geht, wie so oft, um Macht: zwischen Ebenen, Generationen und Geschlechtern.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt einmal mehr in den Händen der Frauen. Das war bereits bei der Autobahnabstimmung im November 2024 so. Die Nachwahlbefragung zeigte: Frauen standen den Ausbauprojekten deutlich kritischer gegenüber als Männer. Während Männer beim Stichwort «Verkehr» häufiger an Effizienz und Geschwindigkeit denken, geht es bei Frauen eher um Sicherheit und Alltagstauglichkeit. Das zeigt eine Umfrage der Zeitschrift Nebelspalter.
Vielleicht setzt die SVP-Kampagne deshalb genau da an: Mit herzigen Zeichnungen von Kindern und Eltern warnt sie vor Ausweichverkehr in Wohnquartieren. Ein verzweifelter Versuch, mit falschen Argumenten jene zu gewinnen, die am meisten zu verlieren hätten.
Der Kanton Zürich widerlegt das Argument in einer eigenen Analyse unmissverständlich: «Bezüglich Verkehrsmengen und Ausweichverkehr gibt es keine Hinweise auf systematische Zu- oder Abnahmen aufgrund der Geschwindigkeitsreduktion.
«Scheinbar wissen Frauen noch immer besser als Männer, dass Mobilität nicht nur von Motoren, sondern von Menschen handelt.»
Thomas Hug-Di Lena
Die meisten schweren Unfälle passieren auf grossen Strassen. Gerade dort macht Tempo 30 innerorts besonders Sinn. Auf einem Kilometer verliert man 10 bis 30 Sekunden – eine vernachlässigbare Zeit, die in der natürlichen Schwankung jeder Fahrt untergeht.
Dass Frauen bei dieser Vorlage entscheidend sein könnten, ist kein Zufall. Sie bewegen sich anders: kürzere Wege, häufiger mit ÖV und zu Fuss unterwegs. Sie tragen nach wie vor einen grösseren Teil der Familien- und Betreuungsarbeit – und erleben Verkehr nicht als abstrakten Fluss, sondern als Teil des Alltags. Wenn Quartierstrassen leiser, Kreuzungen übersichtlicher und Schulwege sicherer werden, verändert das ihr Leben unmittelbar.
Die Frankfurter Allgemeine stellte fest, dass Männer häufiger bereit sind, Risiken in Kauf zu nehmen – während Frauen keine Lust haben, ihre Kinder über gefährliche Strassen zu schicken. Eine Umfrage des St. Galler Tagblatts zeigt: Eine klare Mehrheit der Frauen befürwortet Tempo 30 innerorts.
Und auch ein Bericht von ESRA, einer internationalen Initiative für Verkehrssicherheitsforschung, belegt, dass die Begrenzung auf 30 Kilometer pro Stunde in Siedlungsgebieten europaweit zu den beliebtesten Massnahmen gehört – besonders bei Frauen und Jüngeren.
Obwohl die Fakten eigentlich eine Ablehnung der Initiative bedeuten müsste, deuten Umfragen darauf hin, dass die SVP-Initiative knapp angenommen werden dürfte. Die Hoffnung: Es wird nicht die Kampagne entscheiden, sondern die Mobilisierung.
Und wenn die Frauen abstimmen gehen, kann das den Ausschlag geben. Scheinbar wissen sie immer noch besser als Männer, dass Mobilität nicht nur von Motoren, sondern von Menschen handelt. Tempo 30 bremst niemanden aus – es macht das Leben auf der Strasse ein Stück sicherer und gerechter. Vielleicht wäre mehr Tempo 30 auch eine Chance, dass sich diese Einsicht über die Geschlechtergrenzen hinweg durchsetzt.
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