Warum wir Halloween in Zürich feiern sollten
Jane Mumford liebt Halloween. Beim Brauch gehe es jedoch nicht nur darum, sich zu verkleiden, findet unsere Kolumnistin: Halloween erinnere sie freundlich an das Düstere, Unheimliche – und unsere Sterblichkeit.
Oktober ist Halloween-Monat, aber was ist eigentlich dieses «Halloween»?
Wir haben zwar auch einen Namensgenossen: «Allerheiligen», aber der ist bei uns einen Tick später, irgendwie diskreter und mit viel weniger Zuckerschock verknüpft. Ausserdem feiert niemand in meinem Umfeld Allerheiligen, und nie habe ich so viele Diskussionen darüber geführt, wie über Halloween! Die einen finden: zu morbide, zu kapitalistisch, zu importiert. Die anderen meinen: GEIL, VERKLEIDEN! Und ich gehöre zur zweiten Kategorie. Ich meine, wie süss sind bitte all diese kleinen Kinderzombies? Die Hexchen, Mini-Mumien und XS-Batmans? Oder wie ist der Plural: Batmen? Batmänner?
Für mich ist Halloween auch viel mehr als nur Verkleiden: Ich war zu Teeniezeiten ein sogenannter «Goth». Für Menschen über 50: Gruftis. Für Menschen unter 30: Emos. Und für Menschen unter 20: krass, lest ihr gerade Tsüri.ch? Respekt. Ich las in eurem Alter Mangas.
Und als Teenie-Goth war für mich jeder Tag ein bisschen Halloween! Ich schminkte mich bleich, zog nur schwarze Kleider an, zerrissene Strümpfe an den Beinen und Armen, und sass im Hitzesommer 2003 stur mit meinen Doc Martens unter einem Baum im Schatten. Leidend. Und auch den Hang zum Morbiden trug ich täglich mit mir durch den Sonnenschein. Eis-essend dachte ich an unsere Vergänglichkeit, im Sportunterricht schnaubte ich ob der Sinnlosigkeit unseres Daseins, in den Spiegel schauend fühlte ich mich gleichzeitig zu alt und zu jung. Und auf jeden Fall: nicht bleich genug!
Warum diese Selbstkasteiung?
Gute Frage. Ich glaube, es hat etwas mit toxischer Positivität und meinem Bedürfnis nach Ausgeglichenheit zu tun. In der Schweiz – oder zumindest in meiner Grossfamilie – ist man nicht gerade gut darin, über negative Dinge zu sprechen. Todesfälle werden recht nüchtern und pragmatisch gehandhabt, geweint wird meist privat, eine glückliche und problemlose Kindheit und Jugend offen zum höchsten Ziel erklärt.
«Als hauptberufliche Komikerin mache ich auch sehr gerne Witze über den Tod, und nicht nur übers Leben.»
Jane Mumford
Aber WIE DENN BLOSS, wenn du als Mensch in diese Welt hineinwächst und siehst, was da alles schiefläuft?! Tja, und anstatt was aktiv dagegen zu unternehmen, dass «alles scheisse ist» (Zitat every Teenager ever), zieht man sich überfordert zurück in den Schatten. In Docs. Im Hitzesommer. Und leidet.
Heute fühle ich mich zwar etwas aktiver, was das Angehen der Ungereimtheiten der Welt angeht, aber was geblieben ist: ein Hang zur Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit. Als hauptberufliche Komikerin (das wäre ja mal ein Halloweenkostüm!) mache ich auch sehr gerne Witze über den Tod, und nicht nur übers Leben.
Ist das Thema heikel? Ja. Irritiert es gewisse Menschen im Publikum? Ja.
Aber ich stehe sehr fest hinter der Meinung, dass Comedy ja genau dafür da ist, grössere Probleme in kleinere, «verdaubarere» Brocken herunterzubrechen, damit man gewisse Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten besser verdauen kann, und sie uns nicht wie ein riesiger Klotz im Magen beschweren.
So auch das Thema Sterblichkeit. Natürlich mache ich mich nicht über Trauernde oder Verstorbene per se lustig, sondern: die Umstände an sich! Sorry, aber gibt es etwas Witzigeres als wir Menschen, die sich jeden Tag fürchterlich über Stau und verbrannten Kaffee aufregen, anstatt sich in jeder freien Sekunde mit kindlichem Staunen und offenem Mund dem Wunder all dieser kleinen Ärgernisse hinzugeben? Krass, es gibt Kaffee! Crazy, wir haben Autos erfunden!
Stellt euch vor, wir wachen eines Morgens auf, und nichts ist selbstverständlich? Das Bett, der Kaffee, das Privileg? Das würde doch sicher zu einer Art stiller Dankbarkeit führen, die uns grosszügiger miteinander machen würde. Wer weiss!
Selber stecke ich ja immer noch oft fest im Loop von: «Und all diese krassen Wunder darf ich NUR maximal 100 Jahre lang erleben?! Mannoooo, so unfair! Ich verziehe mich jetzt unter diesen Baum und schwitze in meine Docs rein.»
An Halloween werde ich immer wieder freundlich an das Un- und Übernatürliche erinnert. An das Düstere und Unheimliche. An den Tod, aber auch – Kehrseite – an das Leben! Und in meinem Fall lässt mich Halloween für einen kurzen Moment erleben, wie es wäre, nicht zu morbide zu sein, sondern genau morbide genug.
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