Oh du gehässige Weihnachtszeit auf Stadtzürcher Strassen
Die Adventszeit sorgt oft für Stress im Zürcher Strassenverkehr. Unser Kolumnist Thomas Hug-Di Lena plädiert deshalb auf mehr gegenseitige Rücksichtnahme. Denn für die Verkehrswende brauche es neben besseren Velowegen und einem guten ÖV-Netz auch einen Wandel der Verkehrskultur.
Wer im Dezember auf Zürichs Strassen unterwegs ist, findet oft wenig von jener Nächstenliebe, die uns die Weihnachtslieder versprechen. Der Advent, die Zeit der Besinnung und des Miteinanders, endet spätestens am Trottoirrand. Dort regiert das Recht des Stärkeren. Kein Wunder, dass in Zürich rund 65 Prozent das Verkehrsklima als schlecht beurteilen. Bei den Velo- und Autofahrer:innen sind es sogar 75 Prozent. Rund 80 Prozent geben an, dass sie unter Zeitdruck zur schlechten Stimmung beitragen.
Natürlich ist auch die mangelhafte Infrastruktur schuld daran, dass es immer wieder zu Reibereien kommt. Doch mit kleinen Nettigkeiten, die nichts kosten ausser einen Moment der Aufmerksamkeit, können wir alle zu einer besseren Verkehrskultur beitragen.
Eine klassische Situation: Autofahrerin übersieht beim Abbiegen einen Velofahrer, Vollbremsung, Schreck auf beiden Seiten.
Was folgt, ist meist eine Abfolge der Eskalation. Abwehrende Handbewegungen, Kopfschütteln, stumme Verwünschungen hinter der Windschutzscheibe. Im besten Fall erhält man einen kurzen Zeigefinger, der sich vom Lenkrad erhebt, als Zeichen der Aufmerksamkeit – wer kennt ihn nicht, den Zeigefinger am Lenkrad.
Dabei gäbe es eine Alternative: das Fenster öffnen und «Entschuldigung, ich muss wieder besser auf den Spiegel achten» sagen. Wenige Worte, die aus einem Beinahe-Unfall einen menschlichen Moment machen. Kein Zeichen der Schwäche, sondern der Grösse.
Dann der Zebrastreifen, Ort der täglichen Mikrodramen. Eine Erhebung der Stadt Zürich an der Mühlebachstrasse beim Schulhaus zeigte: Rund die Hälfte der Velofahrenden hielt nicht an, wenn Schulkinder die Strasse überqueren wollten. Teilweise warteten die Kinder minutenlang. Drei Sekunden bremsen, ein Lächeln, ein Nicken – es wäre so wenig.
Oder umgekehrt: Der Mensch zu Fuss, der das Velo freundlich durchwinkt, weil ohnehin gerade niemand kommt. Auch das ist eine kleine Geste der Menschlichkeit. Und kombiniert mit einem Lächeln erhebt es die Laune von allen.
«Die Verkehrswende wird nicht nur mit Velowegen und günstigem ÖV gewonnen. Sie braucht einen Wandel in den Köpfen.»
Thomas Hug-Di Lena
Oder die Sache mit den Aufklebern. Wer durch die Stadt fährt, sieht sie an manchem Autoheck kleben: «Fuck Greta», «Ich bremse nicht für Radfahrer». Statements mit Freundlichkeitsfaktor unter Null. Was wäre, wenn stattdessen dort stünde: «Danke fürs Velofahren»? Kein ironisches Danke, sondern ein echtes. Weil jeder Mensch auf dem Velo bedeutet: mehr Platz auf der Strasse, weniger Lärm, bessere Luft. Auch für jene, die im Auto sitzen.
Die Liste der kleinen Nettigkeiten lässt sich fortsetzen. Die Tramchauffeurin, die an der Haltestelle nochmals die Türe öffnet für den Rennenden, obwohl sie längst weiterfahren müsste. Die Velofahrerin, die ihr Licht richtig einstellt, damit es den Gegenverkehr nicht blendet – gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit keine Selbstverständlichkeit.
Der Autofahrer, der beim Überholen wirklich anderthalb Meter Abstand hält, nicht weil er muss, sondern weil er auf dem Velo einen Mensch sitzen sieht. Die E-Trotti-Fahrerin, die in der Mischzone geduldig hinter den Fussgänger:innen herfährt, statt sich durchzuklingeln.
Es sind Kleinigkeiten. Aber aus Kleinigkeiten besteht der Alltag, und aus dem Alltag entsteht Kultur. Verkehrskultur ist nicht das, was im Gesetz steht. Es ist das, was passiert, wenn niemand kontrolliert.
Die Verkehrswende wird nicht nur mit Velowegen und günstigem ÖV gewonnen. Sie braucht einen Wandel in den Köpfen. Und der beginnt mit dem Moment, wo wir die anderen wieder als Menschen sehen.
Oh du fröhliche. Wir packen das.
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