Brunchgeschichten: Wie ich Freund:innen auf dem Friedhof fand
Gesetzeshüter, Grabdiebe, Gruselvorstellungen: Unsere Redaktionspraktikantin Alice hat auf Friedhöfen schon so manches erlebt. Hier erzählt sie, wie sich ihre Beziehung zur letzten Ruhestätte verändert hat und wie sie Freund:innen auf dem Friedhof Sihlfeld fand – tote.
Tote Menschen liegen in Holzkisten unter der Erde und verschwinden so langsam vor sich hin. Als ich an der Kantonsschule Stadelhofen ins Gymi ging und jeden Tag den Privatfriedhof Hohe Promenade passierte, fand ich diese Vorstellung unglaublich gruselig. Auch, weil der besagte Friedhof eine Besonderheit aufweist. Er liegt erhaben über dem Strassenniveau, sodass die Särge – das liess mich damals nicht los – von der Strasse aus gesehen, nicht unter der Erde liegen, sondern in einer Art, wie soll man sagen, Hochbeet. Wenn man den Schanzengraben Richtung Stadelhofen entlang geht, befinden sich die Särge zuerst noch auf Fussniveau, irgendwann auf Kopfhöhe und dann wird der Graben schnell so tief, dass die Särge über den Köpfen der Fussgänger:innen «schweben».
Besser peinlich als tot
An dieser Stelle muss ich kurz eine Geschichte erzählen, weil sie einfach so unglaublich lustig ist. Ich schwöre. Dass der Friedhof Hohe Promenade privat und zudem hoch gelegen ist, sollte mir und meinen Eltern rund zehn Jahre später zum Verhängnis werden.
Auf einem Spaziergang kommen wir am Friedhof vorbei, wo das sonst verschlossene Tor offen steht: Zur grossen Freude meiner Mutter, die da schon immer mal reingügslen wollte. Meine Eltern und ich (mit Krücken) setzen also Fuss auf das exklusive Stück Erde. Als wir die Gräber einmal umrundet haben, hat sich die Exklusivitätsordnung allerdings neu strukturiert. Das Tor ist zu. Alles ausserhalb des Friedhofes ist nun unerreichbar für uns.
«Mein Vater versucht Angehörige der Verstorbenen zu erreichen – die haben einen Schlüssel.»
Alice Britschgi
Nach einigen Kletterversuchen müssen wir einsehen, dass wir da alleine nicht lebend wieder rauskommen. Es dämmert. Wir lachen hysterisch, telefonieren verzweifelt. Mein Vater versucht Angehörige der Verstorbenen zu erreichen – die haben nämlich einen Schlüssel. Meine Mutter sucht im Internet nach der Verwaltung. Absolut nichts hilft. Schliesslich wählt meine Mutter die Nummer der Polizei: «Drei starke, junge Männer? Ist gut.» Meine Laune sinkt in Grabestiefe.
Mein Vater und ich finden die Vorstellung, dass uns Polizisten aus dem Friedhof lupfen, so schlimm, dass uns die Kletteraktion – Krücken voran – doch noch gelingt. Wenig später helfen belustigte – und ja, starke – Polizisten meiner Mutter über den spitzigen Zaun. Allerdings erst, nachdem sie versuchten, das Schloss am Tor mit einem Dietrich zu knacken – untermalt von ungefragten Tipps meines Vaters. Naja, wir sind dem Friedhof noch mal entkommen. Und wie sagt man so schön: besser peinlich als tot.
Von Krokussen und Lebensfreude
So viel zu meinen schlechten Erfahrungen mit Friedhöfen. Nun zu den guten. Seit ich in Wiedikon wohne, finde ich Friedhöfe nämlich plötzlich nicht mehr so unheimlich wie früher. Wieso? Keine Ahnung. Wie so vieles im Leben, hat sich das grundlos geändert. Nun gehört es zu meinen Lieblingsritualen frühmorgens – okay sagen wir spätmorgens – mit einem Cappuccino über den Friedhof Sihlfeld zu spazieren. Es gab Zeiten, da war ich regelrecht süchtig danach.
«Zu Lebzeiten habe ich meine drei Freund:innen kaum oder gar nicht gekannt.»
Alice Britschgi
Warum? Es gibt da Sonne. Im Frühling zudem hunderte violette Krokusse und rosarot erblühte Bäume. Fast alle Menschen, die man kreuzt, sind in ernster Laune – das mag ich. Der Ort beruhigt mich irgendwie. Vielleicht, weil ich dann immer, egal wie es mir geht, froh bin, am Leben zu sein. Und der wichtigste Grund: Weil ich da jetzt Freund:innen habe – tote, um das gleich vorwegzunehmen
Freund:innen in derselben Grabreihe
Es hat sich so ergeben, dass ich auf meinen Spaziergängen als Erstes immer den verstorbenen Vater des Exfreundes meiner Schwester besuche. Ich kannte ihn zu Lebzeiten nicht gut, habe ihn nur einmal gesehen. Aber mittlerweile fühlt es sich so an, als hätte ich eine Bindung zu ihm. Ich bin weder gläubig noch spirituell – aber sozial und mag Freund:innen.
Wenn ich sein Kreuz in den Grabreihen suche, dann ist das so, wie wenn man auf einem belebten Platz Ausschau nach jemandem hält – der Platz ist halt einfach nicht ganz so belebt. Sobald ich seinen Namen auf dem Kreuz finde, gehe ich zum Grab hin, stelle vielleicht ein umgekipptes Figürchen auf, denke an das feine Abendessen, das ich mit ihm erlebt habe und gehe weiter.
In derselben Reihe liegt eine Frau mit italienischem Namen. Am aufgestellten Kreuz hängt ein Foto. Auf einer meiner Spaziergänge sprach mich ein älterer Mann an, der ihr Grab pflegte – ich nehme an ihr Witwer. Die Grabkerzen würden immer geklaut, sagte er. Die Blumen auch. Crazy, dachte ich, und schmiedete mit meiner Mitbewohnerin einen Plan: An Weihnachten stellten wir gemeinsam mit einem Brieflein ganz viele Kerzen auf das Grab. Sie standen lange dort. Seit da gehe ich immer auch bei diesem Grab vorbei. Und auf eine komische Art, macht mich das froh. Ich finde es lustig und schön, dass jemand Fremdes – ich – das Grab dieser Frau besucht.
Friends for ever
Meine dritte Freundin liegt zerbröselt in einem Steinkästchen: ein Urnengrab. Mit ihr verbindet mich unser beider zweiter Name: Vera. Das ist aber nur der halbe Grund, wieso ich auf sie aufmerksam wurde. Die zweite Hälfte des Grundes ist ihr erster Name: Prima. Prima Vera. Was für ein Name! Jedes Mal, wenn ich den Namen lese, erfreue ich mich an ihm. Gut, dass er auf diesem Steinkästchen festgehalten ist.
Zu Lebzeiten habe ich meine drei Freund:innen auf dem Friedhof Sihlfeld kaum oder gar nicht gekannt. Deshalb schwingt für mich auch nicht viel Traurigkeit mit, wenn ich ihre Gräber besuche. Eher Freude sogar. Vielleicht, weil ich es schön finde, dass sie auch nach ihrem Tod noch eine Bedeutung für jemanden erlangen konnten. Vielleicht, weil ich denke, dass es die Angehörigen freuen würde, wenn sie wüssten, dass sie nicht die einzigen sind, die umgekippte Figuren auf diesen Gräbern aufstellen. Vielleicht, weil diese Besuche das Leben ein wenig unvergänglicher erscheinen lassen. Und vielleicht auch einfach, weil sich der Tag mit einem feinen Cappuccino und einer festgelegten Route so schön hinauszögern lässt. In diesem Sinne: Auf mehr Friedhofsfreund:innen!