Brunchgeschichten: Warum ich nicht (nur) im Jetzt leben will
Gestern und morgen sind out. Wer heute etwas auf sich hält, lebt im Moment. Dabei ist vieles nie so schön wie davor und danach: Ferien zum Beispiel. Und Selbsthilfebücher. Im Moment des Lesens sind sie beinahe unerträglich.
Wisst ihr noch, früher auf dem Pausenplatz gab es eine Zeit, in der wir aus den Deckeln von Pet-Flaschen runde, hellblaue Plastikplättchen klaubten, um sie uns rechts und links zwischen Gebiss und Backen zu stecken und so zu tun, als hätten wir Zahnspangen. Wir haben dann nur noch undeutlich sprechen können. Speichel troff aus unseren Mundwinkeln und die samtige Innenseite unseres Backenfleisches rieb sich mit jedem gesprochenen Wort am scharfen Plastik wund. Lange hielt das niemand aus.
So in der Vergangenheit zu schwelgen, ist doch witzig. Macht doch Spass. Und doch scheint es so, als versuchte gerade ein Grossteil unserer Gesellschaft, sich von Vergangenheit und Zukunft zu lösen und ganz im Jetzt zu leben.
Selbsthilfeschinken zum Znacht
«Lebensfreude jetzt!», «Loslassen und im Jetzt leben», und mein Lieblingstitel: «Schafe leben nur im Jetzt.» In den Regalen der Zürcher Buchläden reiht sich Selbsthilfeschinken an Selbsthilfeschinken. Der Weg zum Glück, das wird mit einem Blick auf die in Farbverläufe eingeschlagenen Bücher klar, kommt nirgendwo her und führt nirgendwo hin. Den Weg zum Glück gibt es nicht. Das Glück ist eine Zeit: jetzt.
«Die Gegenwart ist eine Eintagsfliege. Ich setze lieber auf Elefanten.»
Alice Britschgi
Vor mir liegt die überarbeitete Form des erfolgreichen Ratgebers «The Power of Now» von Eckhart Tolle: «Leben im Jetzt». Ausgeliehen von einer Freundin. Ihr wurde das Buch von einem Freund ans Herz gelegt. Aus Gründen. Wer Eckhart Tolle ist? «Möglicherweise der bedeutendste Weisheitslehrer der Gegenwart.» Das sagt der Klappentext. Er sagt auch: «Wer das ‹Leben im Jetzt› praktiziert, [...] verändert damit seine Wahrnehmung der Welt von Grund auf. Alte Verhaftungen, Ängste, Hoffnungen, die psychologische Zeit und die Strukturen des Egos verlieren an Bedeutung. [...] Denn das psychologische Ich verabschiedet sich.»
Fun Fact, die Einleitung fängt dann so an: «Mein Buch ‹Jetzt! Die Kraft der Gegenwart› hat seit seinem Erscheinen 1997 bereits einen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein der Erde gehabt, der weit über alles hinausgeht, was ich mir hätte vorstellen können.» Das Ganze beginnt also mit einem Rückblick. Und wo hier die Strukturen des Egos an Bedeutung verlieren, erschliesst sich mir auch nicht ganz.
Genug jetzt
Zugegeben, ich habe das Buch nicht gelesen, nur durchgeblättert. Es geht ungefähr so weiter wie auf dem Klappentext. Ganz im Sein soll man sein, den Schmerzkörper auflösen, sich nicht von seinem Verstand benutzen lassen – denn von diesem seien wir besessen. Das reicht mir für den Moment.
Eigentlich habe ich nichts gegen das Jetzt. Ich liebe den Moment. Manchmal. Er kann genauso schön wie unschön sein. Ganz bestimmt aber ist er das Fragilste, was wir haben. Die Gegenwart ist eine Eintagsfliege. Ich setze lieber auf Elefanten.
«Auf Vorfreude und Erinnerungen können wir viel länger zugreifen als auf das Jetzt.»
Alice Britschgi
Carpe Vergangenheit und Zukunft
Erinnerungen gehören zum Besten, was wir haben – und immer haben werden. No matter what. Wenn es draussen kalt und grau ist: Oberer Letten mit einem Eiskaffee. Und auch bei einem richtig lustigen Abend mit Freund:innen: All die anderen lustigen Abende, die wir schon gemeinsam erlebt haben. Ja, es gibt auch schlechte Erinnerungen. Viele sogar. Aber auch die sind doch irgendwie okay. Weil sie uns zu dem machen, was wir sind. Denn vielleicht wollen wir unser Ich ja gar nicht auflösen? Und das unserer Lieblingsmenschen schon gar nicht.
Auch ohne Vorfreude wäre es öde. Neben der Schadenfreude soll sie ja die schönste sein. Ferien zum Beispiel sind nie schöner als davor beim Planen und danach im Fotoalbum. Magen-Darm-Grippe, muffige Hotelzimmer, 40 Grad – vor Ort hat man mit allerlei zu kämpfen, was man sich vorher nicht vorstellen konnte und nachher vergisst. Das mag traurig klingen, ist es aber nicht. Denn auf Vorfreude und Erinnerungen können wir viel länger zugreifen als auf das Jetzt. Ausserdem sind sie auch nichts anderes als ungeborene und vergreiste Momente.
The Future Is Not Now
Wer weiss, vielleicht kommt mal eine Phase in meinem Leben, in der ich mir nichts sehnlicher wünsche, als wie ein Schaf im Jetzt zu leben. Vielleicht fällt mir irgendwann im Umgang mit all den zermürbenden Sinnfragen kein anderer Ausweg mehr ein, als zum Selbsthilferegal eines Buchladens zu schleichen. Ich schliesse es nicht aus. Vielleicht irgendwann. Halt einfach nicht jetzt.