Zürichs Demokratie hat ein Repräsentationsproblem

Aufgrund der Kandidatur der SP-Kantonsrätin Mandy Abou Shoak ist Vielfalt zum Schlagwort der Zürcher Stadtratswahlen geworden. Doch ein Blick auf die Zusammensetzung der Regierung zeigt: Die Stadt Zürich ist weit davon entfernt, ihre diverse Bevölkerung auch politisch abzubilden.

Mitglieder · Stadtrat Daniel Leupi · Stadträtin Karin Rykart · Stadtrat Andreas Hauri · Stadträtin Simone Brander · Stadtrat André Odermatt · Stadtrat Michael Baumer.
Der durchschnittliche Frauenanteil im Stadtrat von 1970 bis heute liegt bei lediglich 26 Prozent. (Bild: Stadt Zürich)

Im März 2026 sind Stadt- und Gemeinderatswahlen in Zürich und in der Berichterstattung dazu fällt ein Wort besonders häufig: Vielfalt. Hauptgrund dafür ist die Kandidatur der SP-Kantonsrätin Mandy Abou Shoak als Stadtpräsidentin. Sie ist eine junge Schwarze Frau mit Migrationsgeschichte.

Zu den Wahlen kursieren bereits Artikel und Social-Media-Beiträge, wobei laute Meinungen anzutreffen sind in den Kommentarspalten. Diese Einblicke hinterlassen den Eindruck, als wäre es eine offene Frage, ob die Zürcher Stadtregierung divers genug ist. Die Antwort hingegen ist klar. Nein, die Regierung ist nicht divers genug. 

Persönliche Wahrnehmungen können sich unterscheiden, demgegenüber ist die Faktenlage eindeutig. Der Stadtrat existiert seit dem Jahr 1798 gemäss der Webseite der Stadt Zürich. Für eine Analyse, inwiefern die Regierung die Geschlechter vertritt, ist kein so weiter Rückblick notwendig. Denn Frauen konnten damals weder wählen und abstimmen noch kandidieren. Erst 1970 erhielten sie dieses Recht auf Gemeindeebene.

Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, wird dies in der Entwicklung der Geschlechtervertretung im Zürcher Stadtrat nicht ersichtlich. Der durchschnittliche Frauenanteil im Stadtrat von 1970 bis heute liegt bei lediglich 26 Prozent. Daran hat sich auch in den letzten 15 Jahren kaum etwas verändert.

Für die Position als Stadtpräsident:in ist die Auswertung noch deprimierender. Corine Mauch war die erste Frau, die dieses Amt im Jahr 2009 übernommen hat. Somit stehen der mehr als 200 Jahre langen Männerdominanz lediglich die 17 Jahre seit ihrer Amtszeit gegenüber.

Wie kann angesichts dieser Grundlage ein Argument geltend gemacht werden, dass die Gleichberechtigung erreicht ist? Die Repräsentation von Menschen, die sich nicht in diesem binären Geschlechtersystem identifizieren, ist gar nicht gegeben. Der erst kürzlich vom World Economic Forum (WEF) veröffentlichte Artikel «Why we need more women leaders in politics for the future of work» stützt sich auf mehrere Studien und erklärt, dass ein höherer Frauenanteil in der Regierung zu einem höheren Wirtschaftswachstum führt.

Ursache sind die von ihnen beschlossenen Massnahmen, Gesetze oder Vorstösse. Alle Bewohner:innen profitieren demzufolge von mehr Gleichberechtigung in der Regierung. Weil wir im Patriarchat leben, also in einem von Männern geprägten Gesellschaftssystem, wird ohne bewusstes Vorgehen dagegen diese Ungleichheit weiter existieren. Zumal dieses Missverhältnis von den bestehenden Strukturen genährt wird.

Politiker:innen mit Migrationsgeschichte benachteiligt

Echte Vielfalt beinhaltet jedoch weit mehr als nur das Merkmal Geschlecht. Ende 2024 lag der Ausländer:innen-Anteil in Zürich bei 33,7 Prozent, das ist etwa ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung. Angaben zum Migrationsstatus sowie Daten zu Einbürgerungen gibt es vom Bundesamt für Statistik. In all diesen Gruppen ist ein Aufwärtstrend im Zeitraum von 2010 bis 2023 erkennbar. Das geringste Wachstum verzeichnen Ausländer:innen (alle Altersgruppen) mit 3,1 Prozentpunkten total. In derselben Periode steigen die Einbürgerungen (ab 15 Jahren) von 22,9 auf 29,5 Prozent. Markant ist zudem die Zunahme von Personen mit Migrationsgeschichte mit 7,6 Prozentpunkten.

Angaben zum Migrationsstatus sowie Daten zu Einbürgerungen gibt es vom Bundesamt für Statistik. I
In allen Gruppen ist ein Aufwärtstrend im Zeitraum von 2010 bis 2023 erkennbar. (Bild: Özge Eren, Quelle: Bundesamt für Statistik)

Im Jahr 2023 hatten demnach mit 56,5 Prozent deutlich mehr als die Hälfte der Stadtzürcher Wohnbevölkerung ab 15 Jahren eine Migrationsgeschichte.

Diese Gesellschaftsstrukturen werden in der Stadtregierung gar nicht repräsentiert, trotz konstantem Wachstum dieser Bevölkerungsgruppen. Kein einziger Stadtrat oder Stadträtin hat eine Migrationsbiografie. Alle Fotos der Stadtregierung seit 1998 zeigen ausschliesslich weisse Menschen. Auf der Liste von ehemaligen Stadtratsmitgliedern seit dem Jahr 1881 findet sich kein einziger nicht-westlicher Name.

Die sogenannte «Max versus Murat»-Studie der Universität Mannheim hat gezeigt, dass Lehrpersonen identische Schülerleistungen bei einem Schüler namens Murat schlechter bewerteten als bei einem Schüler namens Max. In der Schweiz konnte die Universität Neuenburg belegen, dass Personen mit ausländischem Namen sich häufiger bewerben müssen bei der Stellensuche. Vor wenigen Wochen veröffentlichte die Universität eine weitere Studie, die das Repräsentationsdefizit von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik schweizweit festhält. Die Forscher:innen kommen zum Ergebnis, «dass Politiker:innen mit einem sichtbaren Migrationshintergrund im Laufe ihrer politischen Karriere mit mehr Hindernissen konfrontiert sind als Politiker:innen, die als ‹Einheimische› gelesen werden.» 

Negativ beeinflusst werden unter anderem die eigene Legitimität, die freie Themenwahl und schlussendlich die Wahlchancen. Zusätzlich gibt es mehrere Studien, die rassistische Diskriminierung bei der Wohnungssuche feststellen – beispielsweise von der Universität Bern oder des National Coalition Building Institute Schweiz.

Mit mehr Repräsentation gegen Rassismus

Dies sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, dass Menschen in der Schweiz wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden. Rassismus ist ein strukturelles Problem und betrifft alle Lebensbereiche. Laut der Studie «Bildungsgerechtigkeit – eine ungenutzte Chance» entgehen dem Bruttoinlandprodukt (BIP) bis zu 29 Milliarden Franken pro Jahr aufgrund der Chancenungleichheit in der Bildung. 29 Milliarden Franken pro Jahr!

Zwar thematisiert die Studie die Situation von Jugendlichen «aus finanziell schlecht gestellten Familien» unabhängig vom Migrationsstatus, allerdings ist zu erwähnen, dass eben genau migrantische Familien stärker von Armut betroffen sind und laut Zahlen des Bundesamts für Statistik systematisch weniger verdienen.

Diese Herausforderungen lassen sich langfristig nicht lösen, wenn es keine Repräsentation dieser Lebenserfahrungen in Regierungen und Parlamenten gibt. Migration ist längst kein neues Thema in der Schweiz. Die Daten vom Bundesamt für Statistik reichen bis ins Jahr 1901 zurück. Schon damals lag der Anteil an hier wohnhaften Ausländer:innen bei 28 Prozent. Dieser Realität muss sich die Politik zwingend annehmen.

Denn sich dieser Realität zu stellen, würde bedeuten, zu verstehen, dass es eine Form der Ausgrenzung ist, an gewissen Anforderungen festzuhalten. Das bedeutet nicht, Personen zu fördern oder zu wählen, die nicht kompetent sind, sondern die erforderliche Kompetenz zu hinterfragen und sie an verschiedene Lebensbedingungen anzupassen.

Ein leicht verständliches Beispiel ist das Alter. Der einseitige Vergleich der Dauer einer Erfahrung führt zur Benachteiligung von jungen Menschen. Ist beispielsweise der Zeitraum kürzer, wäre eine Alternative, die Intensität dieser Periode, oder den Erfolg des Lernprozesses in Betracht zu ziehen. 

Zürich ist noch weit von einem wahrhaft vielfältigen Stadtrat entfernt. Dieser Umstand lässt sich nur ändern, wenn es Akzeptanz und ein tiefes Verständnis gibt über die strukturellen Herausforderungen. Die Wahl einer jungen Stadtpräsidentin wie Mandy Abou Shoak, die einige dieser Repräsentationslücken schliesst, könnte ein vielversprechender Anfang sein.  

Anmerkung der Redaktion: Die Autorin dieses Artikels hat bis im Sommer 2024 zusammen mit Mandy Abou Shoak bei Tsüri.ch eine Kolumne geschrieben.

özge
Seit Özge Eren denken kann, muss sie dafür kämpfen, gehört zu werden. (Bild: Elio Donauer)
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