Assistenz als Türöffner für Menschen mit Behinderungen

Ohne Assistenz wäre sein politischer Weg unmöglich gewesen, schreibt der Nationalrat Islam Alijaj in seiner Kolumne. Dank ihr konnte er sein Potenzial entfalten. Doch noch hätten nicht alle diese Möglichkeit.

In seinem Alltag als Nationalrat begleitet ihn stets eine Assistenz – doch selbstverständlich sei das nicht, so Islam Alijaj. (Bild: Lara Blatter)

Vor einiger Zeit sprach mich auf der Strasse ein junger Mann an, als ich gerade auf dem Weg ins Büro war. Er habe von mir gelesen und ich sei sein Vorbild.

Der eine oder die andere Leser:in mag jetzt wohl denken, dass es doch wirklich ausgesprochen peinlich ist, als Politiker darüber zu schreiben, wie geil einen die Leute angeblich finden – und da muss ich recht geben!

Aber anhand dieser kleinen Szene kann ich erläutern, wo die Schweizer Behindertenbewegung mit der Inklusionsinitiative ursprünglich hin wollte und warum wir uns mit dem indirekten Gegenvorschlag, den der Bundesrat diese Woche vorgelegt hat, sehr schwertun werden. 

Die Idee einer anderen Inklusionspolitik in der Schweiz war immer mehr als «nur» die Verbesserung der Lebensumstände. Der Antrieb vieler Mitstreiter:innen und mir war immer auch, das gesellschaftliche Bild von Behinderungen zum Positiven zu verändern.

Wenn Menschen mit Behinderungen von der Invalidenversicherung versorgt und in Einrichtungen und geschützten Arbeitsplätzen separiert werden, ist das Bild klar: Arme, hilflose Geschöpfe, die versorgt werden müssen. Was für ein schlechtes Image!

Die Inklusionsinitiative hat vor allem zwei Säulen. Erstens die freie Wahl der Wohnform.

Was eigentlich selbstverständlich klingt, gilt nicht für Menschen mit Behinderungen. Jene haben nämlich Pech gehabt.

Da viele Unterstützungsgelder direkt an entsprechende Heimplätze gebunden sind, wird das leider nichts mit dem selbstbestimmten Wohnen ausserhalb der Einrichtung. Und um 21 Uhr ist dann bitte für alle das Licht aus! 

Die zweite Säule sieht eine Ausweitung der Assistenzleistungen vor. Viele Menschen müssten nämlich gar nicht in geschützten Arbeitsplätzen arbeiten, sondern könnten mit der richtigen Assistenz auch auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt einen Mehrwert für unsere Gesellschaft leisten.

«Assistenz ist der Schlüssel, damit Menschen mit Behinderungen ihre Potenziale entfalten können.»

Islam Alijaj

Als ich 2022 überraschend in den Gemeinderat gewählt wurde, traf meine Behinderung die Stadtverwaltung völlig unvorbereitet, sodass sich diese zunächst weigerte, mir eine Verbalassistenz zur Ausübung meines Mandates zu finanzieren.

Klar ist: Ohne Assistenz wäre mein politischer Weg gar nicht möglich gewesen, ich wäre heute nicht Nationalrat und niemand käme auf die Idee, in einem Schwerbehinderten ein Vorbild zu sehen.

Die Assistenz ist der Schlüssel, damit Menschen mit Behinderungen ihre Potenziale entfalten können und sich das gesellschaftliche Bild von uns wandelt.

Zurück zum Bundesrat und dem indirekten Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative. Bei der ersten Säule, der Frage der Wohnform, geht es zumindest – wenn auch zaghaft – in die richtige Richtung: Der Zugang zu barrierefreien Wohnungen soll erleichtert und Unterstützungsleistungen für selbstbestimmtes Wohnen ausgebaut werden. Immerhin.

Einen Rechtsanspruch auf die freie Wahl der Wohnform gibt es aber immer noch nicht. 

Mit Blick auf die zweite Säule hingegen, bleibt der Vorschlag weiter hinter den Erwartungen der Behindertenbewegung zurück: Die geforderten Assistenzleistungen, um Menschen wie mich in die Lage zu versetzen, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, werden nicht gesetzlich verankert.

Woher die politische Zurückhaltung bei diesem Thema rührt, kann man sich denken. Es ist die Angst vor den vermeintlichen Kosten.

Weil wir uns einfach nicht vorstellen können und wollen, dass es uns als Gesellschaft insgesamt günstiger kommt, wenn Menschen wie ich in die Lage versetzt werden, ausserhalb von Behinderteneinrichtungen einen Beitrag zu unserem Gemeinwesen zu leisten. 

Aber mehr noch als diese kurzsichtige Kosten-Überlegung stört mich das traurige Menschenbild, das unserer heutigen Inklusionspolitik zugrunde liegt: Nämlich, dass sich Menschen nicht von ihrer Behinderung emanzipieren können.

Diese offen gelebte Fantasie- und Hoffnungslosigkeit weckt meinen Widerspruchsgeist.

Ich weiss: Jeder Mensch hat ein Potenzial für unsere Gesellschaft, und wenn es noch so klein ist. Sorgen wir endlich dafür, dass auch alle die Möglichkeit haben, ihres zu entfalten.

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