Brunchkolumne: Weshalb Aufbruch auch schmerzvoll sein kann
In der heutigen Brunchkolumne geht es um Aufbruch. Das klingt zwar erstmal nach Hoffung, heisst aber auch: Zurücklassen, schmerzhaftes Verabschieden, Bewegungen, die von aussen zwar bestimmt aussehen, jedoch ganz andere, innere Bewegungen verschleiern: Ein Karussell im Kopf, das sich rasend schnell bewegt und die immer gleichen Fragen aufwirft: Ist das die richtige Entscheidung?
Aufbruch: Das klingt nach Hoffnung; nach optimismusgetriebener Bewegung; nach vorwärtsgerichtetem Handeln, Augen fixiert auf das neue Ziel, die Vergangenheit als sanfter Schleier, verschwommene Konturen, die sich einzig in den Augenwinkeln noch bemerkbar machen.
Aufbrechen als Gegenstück zu Aufraffen. Im letzteren Fall scheint sich das Gewicht der ganzen Welt auf dem eigenen Körper zu manifestieren, jeder Schritt mühselig, bleiern, als würde man durch Zuckerwatte waten, nur das sich alles klebrig anfühlt, ohne den süsslichen Geschmack und die kindliche Freude. Leichtes Gepäck, beschwingte Schritte, kein Hadern im Geiste bemerkbar, vielmehr ein Körper, dessen jede Faser sich dem Vorwärtskommen in eine bessere Zukunft verschrieben hat.
Aufbruch führt zu Bruchstellen
So stellen wir uns den Aufbruch vor. Doch wie so oft unterscheiden sich Vorstellung und Realität, Assoziation und der harte Boden der Tatsachen. Denn Aufbrechen heisst leider auch Zurücklassen, schmerzhaftes Verabschieden, Bewegungen, die von aussen zwar bestimmt aussehen, jedoch ganz andere, innere Bewegungen verschleiern: Ein Karussell im Kopf, das sich rasend schnell bewegt und die immer gleichen Fragen aufwirft: Ist das die richtige Entscheidung? Wieso nicht noch ein bisschen warten, bis sich der optimale Zeitpunkt ergibt? Wohlwissend, dass dieser nicht existiert.
Dass Aufbrechen nie einfach ist, lässt schon das Wort selbst erahnen: Aufbruch führt zu Bruchstellen, materiellen wie biographischen und seelischen. Brüche treten körperlich zu Tage, als Narben, welche als sichtbare Male den Grund für den Aufbruch dokumentieren oder in Form von Verletzungen, die erst noch entstehen werden. Genau so schmerzhaft ist die Endgültigkeit des Aufbruches: Eine Umarmung wird das letzte Mal vollzogen, die Tür das letzte Mal verschlossen, die Füsse spüren das letzte Mal die altbekannte Strasse. Alles scheint aufgeladen an Bedeutungen zu sein: Das Wetter, schlecht oder gut, dient als Indikator für die neue Zukunft. Der Bäckerin ist das Brot ausgegangen, der Geruch des Lieblingsessens weht durch die Strassen, in der Ferne hört man das Jaulen eines Hundes.
«Anders als ein Bruch, der einen ganzen Menschen zu verschlingen vermag, vermögen einzelne kleine Brüche, gleichmässig von allen getragen, das Fundament nicht zu erodieren.»
Milad al Rafu
Nichts ist mehr willkürlich, alles geheime Zeichen, deren Bedeutungen sich noch nicht erschliessen. Wie können wir also, wissend um diesen geballten Schmerz, einem einzelnen Menschen diese alleinige Verantwortung aufbürden? Eine Verantwortung zur Entscheidung, prägend für das ganze weitere Leben sowie bestimmend über den Ausgang der eigenen Geschichte. Wie heisst es doch so schön: Geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Wenn nun das Lindern von menschlichem Leid geboten ist – wie wir immerzu betonen – haben wir analog hierzu doch einen Teil des Weges entgegenzukommen. Nicht als Einzelpersonen, sondern als Kollektiv: Aufbruchsstimmung hat in den Köpfen der Menschen hier Einzug zu halten, hat das Parlament dieses Landes zu füllen, durch die Institutionen zu wehen.
Auch wenn dies bedeutet, Bruchstellen zu kreieren, Ängste aushalten zu müssen, sich der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verschreiben, ohne Garantie hierfür. Doch anders als ein Bruch, der einen ganzen Menschen zu verschlingen vermag, vermögen einzelne kleine Brüche, gleichmässig von allen getragen, das Fundament nicht zu erodieren. Daran glaube ich.
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