Brunchgeschichten: Wieso wir Exfreund:innen nicht aus unserem Leben streichen sollten - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Alice Britschgi

Praktikantin Redaktion

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27. März 2022 um 05:00

Brunchgeschichten: Wieso wir Exfreund:innen nicht aus unserem Leben streichen sollten

Was ist eigentlich mit uns los, dass wir Plastikflaschen liebevoller entsorgen als Liebesbeziehungen? Unsere Redaktionspraktikantin Alice plädiert für einen schonenderen Umgang mit der wertvollen Ressource Liebe und für eine bessere Handhabung von Schuldgefühlen und gekränkten Egos.

Illustration: Zana Selimi

«Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt», so lautet der letzte Satz eines Gedichtes von Ingeborg Bachmann. Im Alter von ungefähr 15 Jahren und mit diesem Satz im Kopf schienen mir Beziehungsenden unglaublich romantisch. Später musste ich leider feststellen, dass man das bittersüsse Gefühl im realen Leben nicht so schön geniessen kann wie als verblendeter Teenie in der Vorstellung.

Der Satz stimmt nämlich. Wenn eine Beziehung endet, fühlt es sich so an, als ginge eine Welt verloren. Aber muss das sein? 

Klar, bis zu einem gewissen Grad – ja, muss das sein. Denn am Ende einer Beziehung ist nicht nur Schluss mit Tesoro, sondern auch mit vielen anderen Dingen. Schluss mit den unglaublich gut gewählten Kosenamen. Schluss mit dem zweiten Daheim, wenn man nicht zusammen wohnte. Schluss mit dem einen Daheim, wenn man zusammen wohnte. Schluss mit den sweeten Abend- und Morgenritualen. Schluss mit den Pullis, der Familie und der Zahnpasta von Tesoro. Schluss mit ach so vielen Nachrichten, die zuverlässig den Tag hindurch auf dem Handy aufleuchten. Schluss mit dem warmen Körper, an den man sich so sehr gewöhnt hat. Die Liste ist lang und der Schmerz gross. Was nun?

Liebe als Wegwerfprodukt

In allen anderen Belangen sind wir uns heute einig: Wir müssen Ressourcen schonen, recyceln, Dinge nicht gleich wegwerfen, nur weil sie ein bisschen kaputt sind. Nur in der Liebe sehen es viele anders. Nach dem Beziehungsende muss Tesoro aus dem Leben gestrichen werden. Unsere Gesellschaft behandelt Liebe wie ein Abfallprodukt, single-use. Ist sie ein bisschen kaputt oder funktioniert nicht mehr so, wie wir es uns vorstellen – nämlich als romantische Beziehung – werfen wir sie einfach weg. Und das meistens nicht gerade sorgfältig. Nicht mehr sehen, nicht mehr schreiben, vielleicht sogar blockieren. Wir trennen den vermeintlichen Müll nicht mal. Sogar Plastikflaschen werden liebevoller entsorgt.

«Sind die Exen denn nicht immer noch ein bisschen grössere Lieben als so manch andere Person in unserem Leben, deren Platz wir nicht hinterfragen?»

Alice Britschgi

Ich finde diesen verschwenderischen Umgang mit der wertvollen Ressource Liebe unüberlegt. Denn jetzt mal ehrlich: Wie viele Menschen lieben wir im Leben so richtig? So, dass wir denken: «Ja, mit dir möchte ich – tagein, tagaus – zusammen sein, mich um deine Probleme kümmern, dir zeigen, wie stur ich wirklich bin und emotional so richtig schön von dir abhängig werden.» Nicht viele. Und diese Menschen, diese unglaublichen Jackpots, sollen wir dann einfach aus dem Leben löschen, nur weil sie nicht mehr die ganz grosse Liebe verkörpern. Sind sie denn nicht immer noch ein bisschen grössere Lieben als so manch andere Person in unserem Leben, deren Platz wir nicht hinterfragen? 

Tesoro war doch so viel mehr

Natürlich können wir nicht alle Exen in unserem Leben behalten. Wenn wir aufs Fieseste hintergangen wurden, dann: tschüss. Aber die meisten Beziehungen enden ja nicht in Hassgefühlen, sondern in Schuldgefühlen, in schlechten Gewissen und gekränkten Egos. Und da frage ich mich ernsthaft, wie wir als Gesellschaft darauf gekommen sind, dass es doch das Beste wäre, diese Gefühle – gemeinsam mit den Exen – einfach zu verdrängen. Sonst ist verdrängen doch auch out.

Tesoro war doch so viel mehr, als nur der Wille, mit uns zusammen zu sein – und umgekehrt. Vieles, was man gern gemeinsam gemacht hat, kann man auch nach dem Beziehungsaus noch zusammen tun. Und wenige Menschen kennen uns besser als die Exen. Das ist doch etwas wert.

Neulich erzählte ich jemandem, dass ich am Wochenende meinen Ex getroffen habe. Wie selbstverständlich wurde angenommen, dass es sich um ein zufälliges Treffen handelte. Und als ich vor ein paar Wochen mit einem anderen Ex eine Zugreise nach Oslo antrat, dachten viele: «Aha, ein Liebescomeback.» Wieso ist es so unglaubwürdig, dass wir mit unseren Exen bewusst und ohne Hintergedanken Zeit verbringen? Was ist mit uns los, dass wir über die Kränkung und das schlechte Gewissen nicht hinwegzukommen scheinen?

Weltende muss nicht sein

Ich plädiere für mehr Liebe für Exfreund:innen – und einen neuen Namen für diejenigen von ihnen, die wir recyceln oder sogar upcyceln. Denn, dass bei der brutalen Bezeichnung «Exfreund:in», die sich so sehr darauf bezieht, was mal war und nicht mehr ist, immer ein bisschen Drama mitschwingt, ist eigentlich nicht verwunderlich. 

Ingeborg Bachmann wusste, wie es sich anfühlt, wenn eine Beziehung zu Ende geht. Herzschmerz ist schlimm. Wer ihn romantisiert, hat einen an der Waffel – oder ist ein verblendeter Teenie. Vielleicht brauchen wir vorübergehend Abstand von Tesoro. Aber Gefühle können sich ändern – wenn wir sie nicht verdrängen. Und lasst euch gesagt sein: Wir brauchen Exfreund:innen in unserem Leben. Denn es gibt keinen besseren Trost gegen den nächsten Liebeskummer, als mit einem:einer Ex im Zug nach Oslo zu fahren und sich dabei in Erinnerung zu rufen: «Das mit dem Weltende muss nicht sein.»

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