Brunchgeschichten: Warum Sex für viele Zürcher:innen Tabuthema bleibt - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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23. Januar 2022 um 06:00

Brunchgeschichten: Warum Sex für viele Zürcher:innen Tabuthema bleibt

Noch nie war Sex ein so öffentliches und häufig diskutiertes Thema wie heute. Wer jedoch glaubt, wir können zu jeder Zeit über unsere Lust, Körper und Beziehungen sprechen, fällt einem Trugschluss zum Opfer. Denn für viele Zürcher:innen bleibt es ein Tabubruch, wenn auch nur in bestimmten Bereichen.

Illustration: Zana Selimi

Wendla Bergmann, deren Schwester gerade ein Kind zur Welt brachte, will wissen woher Babys kommen. Damit bringt die 14-Jährige ihre konservative Mutter in Erklärungsnot – denn es gehört sich nicht, über Sex zu reden. Um ein Kind zu kriegen, muss man jemanden wirklich lieben und heiraten, erklärt sie ihrer wissbegierigen Tochter.

Gegen Ende des Stücks «Frühlings Erwachen», aus dem diese Szene stammt, wird Wendla ungewollt schwanger und stirbt an den Folgen einer Abtreibung. Mit seiner «Kindertragödie» kritisierte der deutsche Schriftsteller Frank Wedekind die verklemmte bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit. Was im Jahr 1891 als Schund galt, gehört heute zur Standardlektüre an Zürcher Schulen. Die Botschaft des Stücks bleibt aktuell: Eine Gesellschaft, die Sex zum Tabuthema macht, tut sich selbst keinen Gefallen.

Vom Tabu zum Thema der Stunde

Die Zürcher:innen der Gegenwart nehmen sich diese Prämisse sehr zu Herzen – könnte man auf den ersten Blick meinen. Wer Fragen über die schönste Nebensache der Welt hat, findet in der Limmatstadt Sexualpädagog:innen, Sex-Coaches und ganze Institute in Hülle und Fülle. Natürlich widmet sich die Stadt mit einer Fachstelle auch den Jugendlichen, um sie vor Wendlas Schicksal zu bewahren.

Sex wandelte sich von einem totgeschwiegenen Tabu zum Diskursthema der Stunde, was sich auch in unserer Sprache niederschlägt. Mit der eigenen Sexualität und den Bedürfnissen anderer im Reinen zu sein, verschlagworten Aktivist:innen gerne zu «Sex-Positivität». Den eigenen Körper so zu akzeptieren, wie er ist, hat unter dem Schirmbegriff «Body-Positivität» Hochkonjunktur.

Schnell ergibt sich der Trugschluss, dass alle Menschen viel und gerne über ihren Körper, ihre Beziehung und ihre Lust sprechen.

Michael Schallschmidt

Vermehrt stehen Zürcher Politiker:innen dazu, in polygamen Beziehungen zu leben oder queer zu sein – beides scheinbar keine Fremdwörter mehr für die breite Bevölkerung. Auf den Strassen sind Geschlechtsorgane auf Fahnen und Plakaten als Statements für einen Wunsch nach mehr Gleichstellung zu betrachten. Und die Rote Fabrik lud vor nicht allzu langer Zeit zu einem eindeutig zweideutigen Event namens «Wet Dreamz» ein. Letzteres hätte noch vor einigen Jahrzehnten als kassenfüllende Skandal-Schlagzeile für die Tageszeitungen gedient.

Das Schweigen der Zürcher:innen

Freilich würden sich die prüden Kritiker:innen, die Wedekinds Tragödie in drei Akten damals von der Bühne fern hielten, bei so viel Freizügigkeit im Grabe herumdrehen. Doch egal wie viele Workshops, Talk-Reihen oder Events den öffentlichen Sex-Diskurs befeuchten: Über alle Aspekte von Sex zu reden, fällt bis heute vielen Zürcher:innen schwer.

Wer beispielsweise eine Strassenumfrage zu alternativen Beziehungsformen und etablierten Schönheitsbildern unter Zürcher:innen durchführen möchte, erhält nebst unbeholfenem Kichern und irritierten Blicken beinahe ausschliesslich ein «da mache ich nicht mit», als Antwort. Verwunderlich ist dies deshalb, weil die Stadtbevölkerung bei anderen klassischen Tabuthemen wie Politik, Religion oder Geld erfahrungsgemäss eher den Mund aufkriegt. Wie ein Abstecher in die SRF-Videothek zeigt, scheuten die Befragten schon vor knapp 30 Jahren nicht mal vor einer laufenden Kamera zurück.

Es steht viel auf dem Spiel

Zu kaum einer anderen Zeit in der Geschichte unseres Landes war Sex ein derart öffentliches und häufig diskutiertes Thema. Daraus ergibt sich schnell der Trugschluss, dass alle Menschen viel und gerne über ihren Körper, ihre Beziehung und ihre Lust sprechen. «In der Praxis zeigt sich immer wieder: Es gibt im Bereich der Sexualität noch ganz viele Tabuthemen», schreibt die Sexual- und Psychotherapeutin Dania Schiftan in einem Beitrag für die Schweizer Illustrierte.

Nicht jede Person hat die Zeit, Energie und den Mut für solche Auseinandersetzungen – was nachvollziehbar ist.

Michael Schallschmidt

Die deutsche Psychologin Nele Sehrt geht noch eine Ebene tiefer. In einem Beitrag der Berliner Zeitung erklärte sie, wieso es den Menschen sogar schwer fällt, mit ihren eigenen Partner:innen über Sex zu sprechen: «Wir riskieren viel, beispielsweise Zurückweisung, Ablehnung oder Disharmonie».

Die Revolution krankt an Grabenkämpfen

Was die Expertinnen sagen klingt für viele zunächst offensichtlich. Jedoch verbirgt sich dahinter eine wichtige Erkenntnis darüber, wie unsere Gesellschaft mit der Freiheit umgeht, alles über Sex erfahren, fragen und sagen zu dürfen. 

Wer beispielsweise queer ist oder nicht monogam lebt, kann dies zwar aussprechen. Diese Person riskiert jedoch, von seinen Mitmenschen oder der eigenen Familie abgelehnt und verstossen zu werden.

Wer sich öffentlich gegen zementierte Schönheitsideale oder für mehr Body-Positivity einsetzt, hat dank sozialen Netzwerken eine Plattform. Gleichzeitig konkurriert diese Person mit vorurteilsbehafteten Meinungen und dem grössten Teil der Mode- Diät- und Pornoindustrie.

Die sogenannte sexuelle Revolution krankt daher an Grabenkämpfen. Diese Kämpfe finden nicht nur auf der Strasse, in politischen Debatten oder der Wirtschaft statt. Sie verbergen sich in den kleinsten gesellschaftlichen Einheiten, die zugleich die wichtigsten sind: Im eigenen Haushalt, im Freundeskreis und den Beziehungen.

Nicht jede betroffene Person hat die Zeit, Energie und den Mut für solche Auseinandersetzungen – was nachvollziehbar ist. So gehen gerade die heiklen und weniger akzeptierten Themen in diesem Spannungsfeld unter und die Vorurteile bleiben.

Über das Konzept Sex schweigen wir zwar nicht mehr vollständig, was ein Fortschritt ist. Denn würde «Frühlings Erwachen» im Jahr 2021 spielen, hätte Wendla Bergmann in der Schule gelernt, woher die Babys kommen. Das Ziel einer Gesellschaft, in der Sex kein Tabuthema ist, haben wir jedoch nicht erreicht. Ob und wann wir an diesem Punkt ankommen, hängt letztendlich von uns allen ab.

Brunchgeschichten

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