Philipp Kutter (Mitte): Der Sensations-Kandidat

Der Ständeratskandidat Philipp Kutter (Mitte) führt seinen Wahlkampf von der Rehaklinik aus. Doch er hofft, dass man ihn nicht nur als Mann im Rollstuhl sehe. Er hält die Schweiz aktuell für reformunfähig und findet klare Worte zum Ukrainekrieg. Gelingt ihm im Oktober die Sensation?

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Seit Februar ist Philipp Kutter im Paraplegiker-Zentrum Nottwil. (Bild: Yves De Prà)

Philipp Kutter kommt ganz langsam voran. Seine Hände wollen ihm nicht gehorchen. Nur mit Mühe kann er seinen Rollstuhl anschieben. Seit dem Skiunfall in Scuol Anfang Jahr ist er teilweise gelähmt. Er könnte sich von den vielen Pfleger:innen schieben lassen. Doch er möchte nicht. 

Kutter empfängt uns im Paraplegiker-Zentrum Nottwil im Kanton Luzern, einer der grössten und renommiertesten Kliniken für Querschnittgelähmte. Es hat eine Schwimmhalle, einen Pferdestall und ein Forschungszentrum. Wir besuchen ihn auf seiner Station, wo er uns in einen ruhigen Korridor mit Blick auf die grosse Eingangshalle führt.

Gredig Direkt, Homestory bei TeleZüri, SonnTalk – Kutter wird zurzeit in viele Gesprächsformate eingeladen. Überall sehen wir einen Mann, der wegen seines Unfalls zwar körperlich versehrt, doch mental stark geblieben ist. An diesem Abend in der Rehaklinik sitzen wir einem Mann gegenüber, dem sein Schicksalsschlag anzusehen ist. Er wirkt erschöpft – ist bleicher als bei seinen Fernsehauftritten.

Politische Ochsentour

Der studierte Historiker arbeitete lange als Redaktor und schliesslich als Chefredaktor beim Thalwiler Anzeiger. Mit seiner Frau gründete er die Firma «Kutter Kommunikation GmbH», eine Agentur für Kommunikation und Marketing.

Doch Kutter ist allem voran Politiker. Seine politische Karriere kannte bisher nur eine Stossrichtung – nach oben. Angefangen im Wädenswiler Gemeinderat, dann Stadtrat und schliesslich seit 13 Jahren Stadtpräsident der drittgrössten Gemeinde Zürichs. Gleichzeitig war er Kantonsrat und Fraktionspräsident der CVP Kanton Zürich und schliesslich seit 2018 Nationalrat der Mitte.

Auf die Frage, ob nach dem Ständerat das nächste Ziel Bundesrat wäre, lacht Kutter und meint damit «ja, warum auch nicht?». «Ich bin sehr gerne Parlamentarier», sagt Kutter. Als Ständerat könne er viel bewirken für Zürich. Kutter lässt sich politisch nicht immer einordnen, sein Wahlverhalten ist teils unberechenbar. In sozialpolitischen Fragen paktiert er gerne mit den Linken. In wirtschaftlichen Fragen verhält er sich betont bürgerlich.

Weil er im Alleingang eine flächenmässige Erhöhung der Kinderzulagen um 370 Millionen Franken durchgeboxt hatte oder sich gegen Medienförderung einsetzte, nannte ihn die Republik einst einen Linkenschreck.

Dann im vergangenen Februar der schlimme Unfall. Bei einem Sturz auf der Skipiste brach sich der begeisterte Berg- und Wintersportler zwei Halswirbel. Seither ist er Tetraplegiker. Das heisst, er ist vom Hals abwärts gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. 

Der Entscheid, für den Ständerat zu kandidieren, ist vor dem Unfall gefallen. Trotzdem zu kandidieren stand für Kutter bald fest. Für die Politik gebe es schliesslich vor allem zwei Voraussetzungen: «Man muss reden und klar denken können», sagt Kutter. Das scheint sein neues Mantra zu sein, das er nicht müde wird zu wiederholen. 

Der Kommunikationsprofi

Seit seinem Unfall ist Kutter in allen Medien präsent. «Dass so viele Menschen Anteil nehmen, ist grundsätzlich schön», sagt Kutter. Doch es sei auch gewöhnungsbedürftig, dass er und sein Privatleben nun so im Fokus stehen. Die Gespräche mit ihm drehen sich hauptsächlich darum, was ihm Kraft gebe, wie seine Familie zu ihm halte und um die Stärke seiner Frau und seiner Kinder. Für seinen Wahlkampf ist das gut. Doch immer wieder wünscht sich Kutter, dass er mehr über politische Inhalte diskutieren könnte.

Der 48-Jährige hat zwei Töchter und ist verheiratet mit Anja Kutter. Sie war einst selbst Journalistin bei der Zürichsee Zeitung und hat damals oft über ihren künftigen Mann geschrieben und ihn in Interviews in die Mangel genommen. Als Kutter Stadtpräsident wurde, kommentierte sie, er könne gut Wahlkampf machen, jetzt müsse er beweisen, dass er auch eine Stadt regieren könne.

Diesen Beweis hat er erbracht. Als Gemeindepräsident erfreute sich Kutter in den folgenden Jahren grosser Beliebtheit. Wädenswil ist die grösste Bauerngemeinde Zürichs und Hochschulstandort zugleich. Als Wädenswiler Stadtpräsident versteht sich Kutter daher als die goldene Mitte. Es sei eine reizvolle Mischung zwischen Stadt und Land. «Ich bin der einzige, der so viel Erfahrung mitbringt im Brücken schlagen.» Zwei Jahre nach seiner Vereidigung stand die Feuerwehr Wädenswil Spalier bei der Hochzeit von Anja und Philipp Kutter.

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Kutter erzählt, er müsse lernen, sich in alltäglichen Situationen helfen zu lassen. (Bild: Yves De Prà)

Hier in der Rehaklinik spricht sich Kutter langsam warm. Seine politischen Ziele hat er klar vor Augen, auch wenn sie sich seit seinem Unfall etwas verschoben haben. Durch seinen bald siebenmonatigen Aufenthalt in der Rehaklinik lerne er das Gesundheitswesen nochmal neu kennen, sagt Kutter. «Ich hoffe, dass ich in meiner politischen Tätigkeit etwas für Menschen mit Behinderungen erreichen kann. Ich erlebe das jetzt eins zu eins selbst.»

Kutter möchte ein Fürsprecher für Inklusion werden. Gleichzeitig hoffe er, dass man ihn nicht nur als Mann im Rollstuhl sehe. «Ich hatte auch ein politisches Leben davor.» Kutter zählt auf: Er habe sich für Bildung, Familie, gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Anliegen eingesetzt. Und daran werde er festhalten. 

Kutter scheint diese Sätze in den vergangenen Monaten dutzendfach wiederholt zu haben. Der Kommunikationsprofi hat für jedes Stichwort die passenden Sätze bereit. Die Öffentlichkeit wünscht sich einen willensstarken Mann, für den Aufgeben keine Option ist. Philipp Kutter erfüllt dieses Bedürfnis gewissenhaft. 

Mahnende Worte aus der Klinik

Den 1. August verbrachte Philipp Kutter nicht wie sonst mit Cervelat und Bier auf einem Festplatz unter Freund:innen. Stattdessen meldete er sich mit einer Videobotschaft aus der Rehaklinik. Auf der Aufnahme sieht man ihn alleine an einer der langen Fensterfronten des Paraplegiker-Zentrums sitzen – im Hintergrund der Sempachersee. Den Blick in die Kamera und mit stockenden Sätzen bezeichnet er die Schweiz als reformunfähig. Er mache sich Sorgen, da Lebensqualität, Wohlstand und Sicherheit in unserem Land nicht selbstverständlich seien. Besonders die fehlende Linie im Ukraine-Krieg kritisiert Kutter. 

«Ich verstehe nicht, wieso uns das so schwerfällt.» 

Philipp Kutter über die Schweizer Neutralität

Auf seine Videobotschaft befragt, formuliert Kutter seinen Lösungsansatz: gemässigte Parteien und Politiker:innen wählen. «Ich nehme im Bundeshaus wahr, dass sowohl linke als auch rechte Politiker:innen Mühe haben, etwas loszulassen, wenn es nicht genau ihren Vorstellungen entspricht.» Für Reformen sei es notwendig, dass sich alle an den Tisch setzen und einen Kompromiss finden. «Das haben wir nicht so gut gemacht in letzter Zeit. Bei der AHV, bei der BVG und in der Klimapolitik tun wir uns schwer, nachhaltige Massnahmen zu ergreifen.» 

Auch bei der Neutralitätsfrage hat der Mitte-Mann auffallend klare Position. Er sei entschieden dafür, Waffen in die Ukraine zu liefern. «Unser heutiger Neutralitätsbegriff kommt aus dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren wir umringt von kriegstreibenden Parteien. Alle haben verstanden, dass die Schweiz neutral bleiben muss, da sie sonst nicht überlebt hätte. Aber das ist nicht mehr die gleiche Situation. Wir sind nicht unmittelbar bedroht.» Neutral sein bedeute nicht, keine Meinung zu haben, denn die Schweiz müsse auf der Seite des Rechtsstaates sein, findet Kutter. «Ich verstehe nicht, wieso uns das so schwerfällt.» 

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Kutter will sich im Ständerat für den Innovationsstandort Zürich einsetzen. (Bild: Yves De Prà)

Seine Wahl in den Ständerat wäre eine Sensation: Noch nie hat ein Christdemokrat den zwinglianischen Kanton Zürich im Ständerat vertreten. Doch gemäss der jüngsten Umfrage der NZZ hat Kutter reelle Chancen auf den Einzug in die kleine Kammer. Mit Gregor Rutz (SVP) und Regine Sauter (FDP) liefert er sich einen Dreikampf um den zweiten Sitz hinter Daniel Jositsch (SP).

Als Ständerat würde er sich besonders für den Wirtschaftsstandort Zürich einsetzen wollen. «Dem müssen wir Sorge tragen und die Rahmenbedingungen für Bildung und Forschung stärken.» Innovationsförderung mit der EU, Mittel für Hochschulen und gute Bedingungen für Start-ups, daran möchte Kutter arbeiten. «Wir sind nie die günstigsten, daher müssen wir schauen, dass wir die besten Ideen haben. Das ist anspruchsvoll, aber das haben wir lange richtig gemacht.»

Weiterhin will er in den ÖV in den grossen Agglomerationen investieren. «Ich bin der Meinung, dass wir die Infrastrukturen in den Agglomerationen stärken und uns für hohe Lebensqualität und den Erhalt des natürlichen Lebensraums einsetzen müssen.» 

Kutter erinnert daran, dass er sich immer gegen Rassismus und für die Ehe für alle eingesetzt habe. «Viele Leute wissen, dass es mir ein Anliegen ist, Minderheiten zu schützen.» Er sei schon immer sensibel auf Ungerechtigkeiten gewesen. Trotzdem scheint Kutter besonders mit bürgerlichen Themen Wahlkampf zu machen, da Ruedi Noser (FDP) als Ständerat nicht wieder antreten wird. Das Rennen, so ist auch Kutter überzeugt, werde auf rechter Seite entschieden.

Kann er das schaffen?

Philipp Kutter ist ein Mann mit vielen Mandaten: Nationalrat, Stadtpräsident, Unternehmer und nun auch noch Ständeratskandidat. Die vielen Überschneidungen und Präsenzprobleme wurden ihm auch schon angelastet. Jetzt ist Kutter in der Rehaklinik. Immer wieder wird er gefragt, wie er das alles schaffe. Niemand scheint aber direkt zu fragen, ob er das überhaupt alles schafft, jetzt wo er im Rollstuhl sitzt.

«Den Tatbeweis muss ich noch erbringen.»

Philipp Kutter

Kutter überlegt kurz. Zum ersten Mal scheint er keine vorgefertigte Antwort bereitzuhaben. «Ich möchte weiterhin gerne Politik machen», beginnt er langsam. Denn das sei eine Tätigkeit, die man aus dem Rollstuhl machen könne. «Jetzt stellt sich die Frage, wie viel ich machen kann. Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiss es nicht. Aber ich will weiterhin Stapi sein und ich will weiterhin im Bundeshaus politisieren.» 

Kutter glaubt daran, dass es funktionieren könnte. Er werde viel Unterstützung brauchen und eine persönliche Assistenz. «Ich bin gewillt und motiviert. Den Tatbeweis muss ich noch erbringen. Ich glaube, es ist realistisch. Alles andere werden wir in den nächsten 12 bis 24 Monaten sehen.» 

Einmal mehr zeigt Kutter, dass er gut Wahlkampf machen kann. Er hat den unbedingten politischen Willen, Ständerat zu werden. Auch die Umfragewerte rechnen ihm reelle Chancen aus. Als erster Tetraplegiker im Ständerat wäre er eine Sensation. Seine körperliche Verfassung bleibt aber weiterhin ungewiss.

Jetzt noch ein paar schnelle Fragen zum Schluss, die wir allen Kandidierenden stellen:

Wen haben Sie zuletzt angerufen?

Meine Frau. Wir telefonieren mehrmals pro Tag. Meine Familie ist gerade in den Ferien und sie vermissen mich ein bisschen. Dann sind Telefone manchmal etwas Gutes.

Was ist der feministischste Akt, den Sie je vollbracht haben? 

In der Stadtverwaltung stelle ich gerne Frauen ein. 

Gummischrot ja oder nein?

Leider ja. Trotz allem ist es eine Waffe, die Menschen verletzt. Aber offensichtlich ist es nötig. Auch Polizist:innen müssen sich in einer Form wehren können und kommen jetzt schon fast unter die Räder. 

Wenn es immer heisser wird, bauen Sie sich eine Klimaanlage in Ihrem Zuhause und einen Pool im Garten ein?

Zweimal nein. Das ist ein Problem und ich hoffe, dass wir den Klimawandel bremsen können.

Kann Zürich besser mit mehr oder weniger EU?

Mit mehr. Zürich braucht unbedingt geregelte Verhältnisse mit der EU. Wir sind als internationale Stadt mit dem grössten Flughafen der Schweiz sehr exportorientiert. Und auch für die Forschung spielen gute Beziehungen zu Europa eine wichtige Rolle. 

Über 1,5 Millionen Zürcher:innen sind im Ständerat genauso stark vertreten wie weniger als 40’000 Urner:innen. Sollte sich das ändern?

Ich würde das nicht ändern. Das ist eine Schweizer Eigenheit, die Minderheiten schützen soll. Das hat der Schweiz sehr viel geholfen, damit es nicht zu grossen Spannungen kommt zwischen Stadt und Land. Ich möchte den Ständerat nicht abschaffen.

Welches Vorurteil über Zürcher:innen ist wahr?

Wir haben ein bisschen eine grosse Klappe.

Wie viel kostet Ihr Wahlkampf?

Mein Budget beträgt 100'000 Franken. Dazu kommt freiwilliges Engagement, zum Beispiel beim Plakate aufstellen.

Wahlen 2023: Das sind die Ständeratskandidierenden

Am 22. Oktober wählt die Schweiz ein neues Parlament. Bei den Ständeratswahlen in Zürich dreht sich vieles um die Frage, wer den freiwerdenden Sitz von Ruedi Noser (FDP) übernimmt. Wir haben die sechs Kandidat:innen der grossen Parteien getroffen und porträtiert. Wieso wollen sie Zürich in Bern vertreten? Was ist ihr feministischster Akt? Und wie hoch ist ihr Wahlkampfbudget? Die Antworten auf diese Fragen findest du in den Porträts.

Auch haben wir einen Blick auf das Stimmverhalten der sechs Politiker:innen im Hinblick auf die Wohnungsnot geworfen: Nur zwei Kandidierende machen Politik für Mietende. Die Analyse findest du hier. 

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