Daniel Jositsch (SP): Der Liebling der Bürgerlichen
Daniel Jositsch ist quasi gesetzt. Als bisheriger Ständerat stehen seine Chancen zur Wiederwahl gut, als möglicher Nachfolger auf den freiwerdenden Sitz von Bundesrat Alain Berset mässig. Doch Bundesratswahlen seien so unberechenbar wie Papstwahlen, sagt der Sozialdemokrat.
Mit Baseballcap und Steppjacke taucht Daniel Jositsch pünktlich um 13.30 Uhr in der Kunsthausbar auf. Darunter trägt er Anzug und Hemd. Es ist Ende August, der Sommer macht gerade eine Pause. Fürs Gespräch bestellt er einen Früchtetee, fürs Foto dann ein Glas Weisswein, trocken.
Der Strafrechtsprofessor sitzt seit 2015 im Ständerat. Zuvor politisierte er acht Jahre lang im Nationalrat und kurz im Zürcher Kantonsrat. Daniel Jositsch, 58 Jahre alt, will zwar Ständerat bleiben, aber noch viel lieber will er Bundesrat werden. Er scheint es so sehr zu wollen, dass er vergangenes Jahr gar als Bundesrätin kandidierte.
Der Frage, ob er nun, wo Alain Bersets Sitz frei wird, erneut kandidieren will, weicht er aus. Er verweist geheimnisvoll auf die kommende Woche, wo er im Volkshaus eine Pressekonferenz halten und seinen Entscheid mitteilen wird.
So oder so meint er aber, dass Bundesratswahlen unberechenbar seien. Letzten Winter dachten alle, dass Eva Herzog Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga werde – schlussendlich machte Elisabeth Baume-Schneider zur Überraschung vieler das Rennen. Jositsch vergleicht die Bundesratswahlen mit den Papstwahlen. «Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus», zitiert Jositsch das römische Sprichwort.
Alle wissen: Er will
Anfang September hiess es dann im Volkshaus wenig überraschend: «Ja, ich will.» Als potenzieller Nachfolger von Berset habe er sich mit ihm getroffen und sich schlau gemacht, was es heisse, Bundesrat zu sein. Obwohl er «Höllenrespekt» habe vor diesem Amt, wolle er in der Exekutive mitarbeiten, so Jositsch beinahe ehrfürchtig. Hat er Zweifel, ob er dem Amt gewachsen ist? Das wäre nicht seine Natur.
Das Co-Präsidium der SP Kanton Zürich, Priska Seiler Graf und Andreas Daurù, standen ihm zur Seite. Seiler Graf meinte an der Medienkonferenz: «Nach 16 Jahren in Bundesbern zählt die Meinung von Daniel Jositsch, er hat Einfluss und er kann mehrheitsfähige Kompromisse schmieden.» Sie betonte zudem, dass Jositsch gemäss Umfragen der beliebteste neue SP-Bundesrat wäre.
Und Daurù sprach den Elefanten im Raum an: seine Kandidatur als Nachfolger von Parteikollegin Simonetta Sommaruga vergangenen Winter. Damals sorgte Jositsch für Schlagzeilen, weil er als Mann Anspruch auf einen Sitz einer Frau erhoben hatte. Doch die Ausgangslage mit dem Rücktritt von Berset sei heute eine andere und Jositsch habe sich einsichtig über seinen Fehler gezeigt, so Daurù. Es sei ihm verziehen. Sei ihm?
Kein alter weisser Mann, kein «Ladykiller»
Ob Jositsch tatsächlich aufs Bundesratsticket der SP kommt, ist fraglich und wird sich erst nach den eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober zeigen. Denn einigen Parteikolleg:innen stösst Jositschs Alleingang vor den letzten Bundesratswahlen nach wie vor sauer auf. So etwa Juso-Präsidenten Nicola Siegrist. «Ein Teil der Fraktion wird ihm das nie verzeihen», sagte er im August zum Tages-Anzeiger. Jositsch sei zugunsten seiner Karriere bereit gewesen, der eigenen Partei zu schaden.
«Nach jahrelanger Diskriminierung der Frauen komme nun ich und klage, ich fühle mich diskriminiert – das war ein Fehler.»
Daniel Jositsch
Die Politik jüngerer Parteikolleg:innen wie beispielsweise Nicola Siegrist, Fabian Molina, Cédric Wermuth oder Tamara Funiciello fände er erfrischend – selbstbewusst und fordernd. «Ich bin aus einer Generation, die bescheidener ist und sich weniger zutraut.» Sich selbst klammert er wahrscheinlich aus, an Selbstvertrauen scheint es dem Bundesratsanwärter nicht zu fehlen.
Mittlerweile hat er sich auf diversen Kanälen entschuldigt, zeigt sich auch in Interviews einsichtig und betont, er wolle kein «Ladykiller» sein. «Nach jahrelanger Diskriminierung der Frauen komme nun ich und klage, ich fühle mich diskriminiert – das war ein Fehler», sagt er. Findet aber auch, dass er nur für sich Verantwortung übernehmen könne, nicht etwa für diejenigen, welche die letzten 500 Jahre mitgeprägt haben.
Auch sei er kein alter weisser Mann, wie ihm von jüngeren Parteikolleg:innen und teils Medien vorgeworfen werde. Er sei noch nicht alt und auch nicht immer privilegiert; als Nachkomme einer jüdischen Flüchtlingsfamilie.
Jositsch, der Visionär
Aufgewachsen ist er im Limmattal in einer mittelständischen Familie, sein Vater sei ein klassischer Kleinunternehmer gewesen und die Mutter kam aus einer Arbeiterfamilie. Er kenne also beide Seiten. Heute wohnt er in Stäfa.
Neben der Politik bleibe ihm wenig Freizeit, diese fülle er mit Erholung, Spaziergängen und Zeit mit der Familie. Und er mag Kunst, deswegen hat er für das Treffen auch das Kunsthaus vorgeschlagen. Der italienische Maler Michelangelo Merisi da Caravaggio ist sein Lieblingskünstler. Seine düsteren Bilder faszinieren Jositsch. «Er stellt Menschen so dar, wie sie sind. Das einfache Volk zieht er Heiligen vor. Das war revolutionär für die damalige Zeit.»
Einfache Leute, das Volk – es spricht der Sozialdemokrat aus ihm. Seinen Weg in die Politik fand der 20-jährige Daniel Jositsch durch das Waldsterben in den 80er-Jahren. Er trat damals den Grünen bei. «Wir waren eine Art Klimajugend 1.0», sagt er. Doch die Grünen waren ihm zu eindimensional, wollten ökologische Themen lokal lösen. Jositsch war schön früh ein Verfechter Europas. Das Nein der Grünen zum Schweizer Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum und ihre kritische Haltung gegenüber der Europäischen Union brachte ihn zur SP.
«Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nicht der EU beitreten», sagt er. Das sei ein Prozess, zudem stecke Europa in der Krise. Heute kommen für den Ständerat nur die bilateralen Abkommen infrage, aber langfristig sei es wichtig, dass die Schweiz ein stabiles Verhältnis mit der EU hat. Quasi als Vision. Diese hat er auch, was die Schweizer Armee betrifft. «Ich befürworte sie», macht er gleich klar. Doch: «Das Ziel muss eine Welt sein, wo wir keine Armee brauchen.»
Jositsch, ein Utopist? Ja, findet er. «Gewisse Utopien braucht es, sonst resignieren wir. In der Tagespolitik bin ich realistisch, aber wir müssen Visionen haben.»
Wer seine Politik verfolgt, stuft ihn wohl eher als Realisten, wenn nicht gar als Opportunisten ein. Einer, der sich zweckmässig den Gegebenheiten anpasst. Auch mal bei rechts anbiedert.
Beliebt bei Bürgerlichen
2019 wurde er als Ständerat im ersten Wahlgang glanzvoll wiedergewählt. Und auch seine diesjährigen Umfrageergebnisse sprechen für seinen Sitz in der kleinen Kammer. Jositsch ist beliebt und das über Parteigrenzen hinaus.
Am meisten Kritik erhält er von eigenen Reihen – er sei zu rechts, zu liberal. Er ist Mitglied der parteiinternen Opposition, der SP-Reformplattform, einem Auffangbecken für liberale Genoss:innen. Als ehemaliger Grüner und Mann, der gerne im Sinne der Wirtschaft denkt, wäre er doch optimal in der GLP aufgehoben? «Nein, ich fühle mich sehr wohl in der SP.» Die GLP sei zwar grün, aber doch zu nahe am Freisinn.
Fragen zu seiner Stellung innerhalb der Partei scheinen ihn zu langweilen, vielleicht nerven sie ihn gar. Eine Partei lebe schliesslich von den verschiedenen Ansichten ihrer Mitglieder. «Wichtig ist, dass wir uns innerhalb der SP über die Grundwerte und die Ziele einig sind – und das sind wir.» Dass es trotzdem zu Diskussionen komme, sei normal. Er selbst zählt sich zum moderaten Flügel der SP. Deshalb wolle er sich mehr zur Mitte hin öffnen.
Bekannt wurde Jositsch im Jahr 2007 als er zum ersten Mal für den Nationalrat kandidierte. Zusammen mit der damaligen SP-Nationalrätin Chantal Galladé (heute GLP-Kantonsrätin) präsentierte er einen 12-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Jugendgewalt. Darin forderten sie schärfere Strafen für junge Gewalttäter:innen. Keine typische Forderung für zwei SP-Politiker:innen. Das Thema wurde eher von der SVP dominiert und brachte ihm Stimmen bis weit über das linke Lager hinaus. Es zeichnete sich schon damals ab, dass er am rechten Rand der SP politisiert.
Und heute? Ein gutes Verhältnis zur EU, gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Rettung des Klimas und eine faire Migrationspolitik will Jositsch in seiner Politik vereinen.
«Ich bin kein Showman.»
Daniel Jositsch
Viele dieser Themen hätten in der vergangenen Legislaturperiode unter der Pandemie und dem Krieg gelitten. «Das Parlament hat es nicht wirklich geschafft, die grossen Projekte und Fragen zu bewältigen», gibt er zu. In den nächsten vier Jahren sei es wichtig, vermehrt wieder politische Allianzen zu schmieden – denn nur so würden wir beispielsweise in der Finanzierung der AHV oder der Europafrage weiterkommen. Und als Ständerat will er Zürich weiterhin als Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort stärken.
Links, aber kein Marxist
Der 58-Jährige arbeitet seit 2004 als Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich. Jurist zu sein, sei eine gute Grundlage für die Politik. «Wir machen Gesetze, darum ist es nicht schlecht, wenn man versteht, wie unser Recht funktioniert», so Jositsch.
Seine Vorlesungen an der Uni seien meist gut besucht, erzählt eine ehemalige Studentin. Jositsch habe es genossen, solche grossen Vorlesungen zu halten – ein Showman durch und durch? Angesprochen auf seine rhetorischen Fähigkeiten lacht Jositsch auf und meint: «Ich bin kein Showman. Aber um die Studierenden bei Stange zu halten, muss ich aus didaktischer Sicht spezielle und fesselnde Beispiele bringen.»
Er selbst hat Rechtswissenschaften an der Universität St. Gallen studiert und war als Austauschstudent in Kuba. Nach seinem Abschluss zog es Jositsch erneut nach Lateinamerika. Dort war er als Anwalt tätig und in den frühen 90er-Jahren Geschäftsführer der Schweizer Handelskammer in Kolumbien.
Diese Zeit habe ihn politisch geprägt. Aber nicht etwa so, wie man es von einem Sozialdemokraten, der in kommunistisch und links geprägten Ländern unterwegs war, erwarten würde. In Lateinamerika sehe man auch die Probleme, welche ein zu wenig gut funktionierender Staat verursachen könne. «Ich habe gesehen, was es heisst, wenn es keine öffentliche Sicherheit und kein intaktes Rechtssystem gibt. Ein funktionierender Sozialstaat braucht Geld und dafür braucht man eine stabile und soziale Marktwirtschaft.» Für Wohlstand seien unternehmerische Freiheiten genauso wichtig, wie soziale Gerechtigkeit.
Vielleicht hat ihn gar dieses «Abenteuer Lateinamerika», wie er es nennt, in die liberale Ecke der SP gedrängt. Denn als Marxist kam er damals bestimmt nicht zurück nach Zürich.
Jetzt noch ein paar schnelle Fragen zum Schluss, die wir allen Kandidierenden stellen:
Wen haben Sie zuletzt angerufen?
Das ist wenig spektakulär: Als Präsident des kaufmännischen Verbands Schweiz habe ich vorhin den Geschäftsführer angerufen.
Was ist der feministischste Akt, den Sie je vollbracht haben?
Ich fördere Frauen in meinem Umfeld und helfe ihnen in ihren individuellen Karrieren – sei es an der Universität, im kaufmännischen Verband oder in der Politik.
Gummischrot ja oder nein?
Wenn es notwendig ist und bei Demonstrationen dem Schutz der Bevölkerung dient, dann ja. Aber mit Zurückhaltung selbstverständlich.
Wenn es immer heisser wird, bauen Sie sich eine Klimaanlage in Ihrem Zuhause und einen Pool im Garten ein?
Von meinen Eltern habe ich eine Ferienwohnung im Tessin übernommen, dort gibt es einen Pool, welchen wir mit drei Häusern teilen. Und das Klima sollten wir aushalten, damit wir merken, wie es sich verändert. Klimaanlagen finde ich unangenehm, ausserdem sind sie nur klassische Symptombekämpfungen. Also bekämpfen wir besser die Erhitzung, statt Klimaanlagen einzubauen.
Kann Zürich besser mit mehr oder weniger EU?
Besser mit mehr EU.
Über 1,5 Millionen Zürcher:innen sind im Ständerat genauso stark vertreten wie weniger als 40’000 Urner:innen. Sollte sich das ändern?
Nein, der Ständerat ist bewusst geschaffen worden, um einen Ausgleich zu schaffen gegenüber dem Nationalrat. Denn dort ist der Kanton Zürich 36-mal stärker vertreten als der Kanton Uri. Deshalb ergänzen sich die zwei Kammern sehr gut.
Welches Vorurteil über Zürcher:innen ist wahr?
Dass wir das beste Züri-Geschnetzelte machen. Ich selbst koche zwar nicht gut, aber gerne.
Wie viel kostet Ihr Wahlkampf?
Etwa 196’000 Franken.
Wahlen 2023: Das sind die Ständeratskandidierenden |
Am 22. Oktober wählt die Schweiz ein neues Parlament. Bei den Ständeratswahlen in Zürich dreht sich vieles um die Frage, wer den freiwerdenden Sitz von Ruedi Noser (FDP) übernimmt. Wir haben die sechs Kandidat:innen der grossen Parteien getroffen und porträtiert. Wieso wollen sie Zürich in Bern vertreten? Was ist ihr feministischster Akt? Und wie hoch ist ihr Wahlkampfbudget? Die Antworten auf diese Fragen findest du in den Porträts.
Auch haben wir einen Blick auf das Stimmverhalten der sechs Politiker:innen im Hinblick auf die Wohnungsnot geworfen: Nur zwei Kandidierende machen Politik für Mietende. Die Analyse findest du hier. |