«Wir müssen die Bilder aus Gaza gemeinsam verarbeiten»

Die humanitäre Krise in Gaza habe einen neuen Tiefpunkt erreicht, sagt Sarah Buss, Leiterin der Katastrophenhilfe bei Caritas Schweiz. Die Zürcherin spricht im Interview über die Hilfe vor Ort, die Ohnmacht hierzulande und wie wir ihr begegnen können.

Zertrümmerte Gebäude in Gaza. Auf einem Schotterweg geht ein Kind entlang.
Die Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Viele Hilfslieferungen bleiben weiterhin blockiert – auch jene des Caritas-Netzwerks. (Bild: Unsplash)

Während in Zürich der Alltag seinen Lauf nimmt, spitzt sich die humanitäre Katastrophe in Gaza weiter zu.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor einer akuten Hungerkrise unter den zwei Millionen Bewohner:innen des Gazastreifens. Nach der Waffenruhe im März hatte Israel die Einfuhr von Hilfsgütern grösstenteils blockiert. Erst seit vergangenem Wochenende erreichen unter internationalem Druck wieder vereinzelt Hilfslieferungen über Land und aus der Luft das Gebiet. Amnesty International wirft Israel seit Ende letzten Jahres einen Genozid vor. Seit Montag schliessen sich auch die israelischen NGOs Physicians for Human Rights und B'Tselem dieser Einschätzung an.

Sarah Buss kennt die humanitäre Lage im Gazastreifen. Die Zürcherin leitet die Katastrophenhilfe bei Caritas Schweiz, koordiniert von Luzern aus die Einsätze der Organisation und entscheidet, mit welchen Partner:innen im Kriegsgebiet zusammengearbeitet wird. 

Kai Vogt: Frau Buss, die Bilder aus dem Gazastreifen sind seit bald zwei Jahren unerträglich. Die lokalen Behörden melden mehr als 60'000 tote Palästinenser:innen, über hundert davon sollen verhungert sein. Das beschäftigt viele Stadtzürcher:innen, wie Mahnwachen, Demonstrationen und zuletzt ein offener Brief israelischer Expats ans Aussendepartement zeigen. Wie erleben Sie die aktuelle Lage?

Sarah Buss: Die aktuelle Lage in Gaza ist die schlimmste seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023. Unsere Partnerorganisationen vor Ort berichten uns von absolut katastrophalen Zuständen, von denen auch unsere Mitarbeiter:innen betroffen sind. Eine Kollegin von Caritas musste sich eine Woche freinehmen, um Milchpulver für ihr Baby zu finden. Sie selbst kann durch Mangelernährung nicht stillen. Nun konnte sie genug für drei Wochen auftreiben, doch was danach kommt, weiss sie nicht.

Wie gehen Sie mit solchen Geschichten um?

Sie gehen mir sehr nahe und sind schwer zu verarbeiten. Mir hilft es, dass ich persönlich durch meine Arbeit einen Teil dazu beitragen kann, die Situation vor Ort etwas zu verbessern. Die Arbeit im Gazastreifen ist extrem schwierig, doch sie findet statt. Die Hilfsorganisationen dort tun, was sie können.

Sarah Buss, Leiterin der Katastrophenhilfe von Caritas Schweiz
«Natürlich ist die Vorgeschichte des Krieges komplex. Aber die aktuelle humanitäre Lage ist es nicht», sagt Sarah Buss. (Bild: Privat)

Wie hilft Caritas unter diesen Umständen?

Derzeit können wir keine Hilfsgüter auf eine Weise zuliefern, die den Menschen langfristig hilft, weil der Zugang weitgehend durch Israel blockiert wird. Unsere Partnerorganisationen leisten psychosoziale Unterstützung oder helfen mit Bargeld. Das ersetzt zwar keine Güter, ermöglicht aber Dienstleistungen wie Mietzahlungen oder Transporte.

Mit welchen Organisationen arbeiten Sie zusammen?

Die Caritas ist ein internationales Netzwerk mit Ablegern in vielen Ländern. Vor Ort arbeiten wir mit Caritas Jerusalem und der US-amerikanischen Caritas zusammen – beide sind seit Jahrzehnten im Gazastreifen tätig. Wir unterstützen sie mit Projektplanung und finanziellen Mitteln.

Seit Sonntag lässt Israel wieder einzelne Lastwagen mit Hilfsgütern die Grenze zu Gaza passieren. Ein Grund zur Hoffnung?

Bei den Hilfslieferungen hat sich etwas bewegt, doch noch viel zu wenig. Hilfsorganisationen haben nach wie vor keinen uneingeschränkten Zugang zum Gazastreifen. Was derzeit passiert, ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Caritas Schweiz spricht sich zudem klar gegen sogenannte Air-Drops aus – also den Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft, welche die israelische Regierung kürzlich veranlasst haben.

Weshalb?

Der Abwurf von Hilfsgütern über die Luft kostet viel Geld, ist ineffizient und erniedrigend. Die Bergung der Güter in den Trümmern Gazas ist gefährlich und es besteht das Risiko, durch herabfallende Hilfslieferungen verletzt zu werden. Zudem widerspricht es humanitären Prinzipien, wenn Menschen in existenzieller Not um Hilfsgüter ringen müssen, wenn es einen sicheren Zugang gäbe. Was es jetzt braucht, sind Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin auf dem Landweg – und eine gerechte Verteilung.

Konnten Ihre Lastwagen bereits einfahren?

Leider nein. Aktuell werden täglich etwa 100 Lastwagen über die Grenze gelassen. Gebraucht würden aber mindestens 600 pro Tag, um dem immensen Bedarf nachzukommen. Unsere Partnerorganisationen sagen ganz klar: «We have to flood Gaza with food.» – «Wir müssen Gaza mit Essen fluten.» Die Menschen brauchen die Sicherheit, dass sie langfristig Zugang zu Nahrung und medizinischer Versorgung haben.

Welche Organisationen leisten neben der Caritas unterstützenswerte Arbeit im Gazastreifen?

Ärzte ohne Grenzen ist vor Ort und leistet Hilfe, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Doch auch sie sind betroffen vom mangelnden Zugang zu Hilfsgütern, insbesondere zu Medikamenten. Lokale Organisationen sind in Gaza zentral, um die Hilfe zu erbringen, die benötigt wird. Sie kennen die Bedürfnisse der Menschen am besten und wissen, wie sie die Schwächsten erreichen können. Ihre Arbeit in unvorstellbar schwierigen Umständen mit minimalen Ressourcen ist bemerkenswert.

Ausserdem gilt: Keine humanitäre Hilfe im Gazastreifen ist ohne die Vereinten Nationen möglich. Das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) ist zentral für die Koordination und Verteilung der Hilfsgüter. 

«Es handelt sich um eine politisch erzeugte Blockade, und sie kann auch politisch beendet werden.»

Sarah Buss, Leiterin Katastrophenhilfe bei Caritas Schweiz

Was können Menschen in Zürich gegen das Gefühl der Ohnmacht tun?

Ich kann dieses Gefühl sehr gut nachvollziehen. Viele Menschen empfinden Ohnmacht – ich selbst auch. Trotzdem ist es weiterhin notwendig, Hilfsorganisationen zu unterstützen, die vor Ort tätig sind. Es ist auch wichtig, dass wir miteinander über die Situation sprechen. Das hilft, die Bilder und Berichte aus dem Gazastreifen emotional zu verarbeiten. Dafür können auch Veranstaltungen wie Mahnwachen oder Demonstrationen helfen.

Viele Personen meiden das Gespräch über die Situation in Gaza – aus Angst, etwas Falsches zu sagen oder weil sie die Vorgeschichte als zu komplex empfinden.

Natürlich ist die Vorgeschichte komplex. Aber die aktuelle humanitäre Lage ist es nicht. Diese Situation ist menschengemacht, keine Naturkatastrophe. Es handelt sich um eine politisch erzeugte Blockade, und sie kann auch politisch beendet werden. Der Waffenstillstand im Januar und Februar hat gezeigt, dass Hilfe möglich ist, wenn der politische Wille da ist.

Sie plädieren für mehr politisches Engagement?

Politisches Engagement bleibt entscheidend. Es ist eine politisch verursachte Katastrophe – und sie kann auch nur auf politischem Weg beendet werden. In der Schweiz haben wir die Möglichkeit, unsere Politiker:innen direkt zu kontaktieren und ihnen mitzuteilen, wie wichtig es ist, weiter und mehr Druck auf Israel und die Hamas auszuüben, um einen langfristigen Frieden zu ermöglichen. Und der Druck der Zivilgesellschaft wirkt: Letzte Woche haben 28 Staaten, darunter auch die Schweiz, einen Appell für ein Kriegsende unterzeichnet. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 zog es Kai nach Berlin. Dort absolvierte er ein Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz.

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