In Genf wird bald Kokain an Suchtkranke abgegeben – zieht Zürich nach?
Der gestiegene Crack-Konsum setzt Städte unter Druck. Genf wagt nächstes Jahr ein Pilotprojekt zur kontrollierten Kokainabgabe an schwer abhängige Personen. Nun prüft auch die Stadt Zürich ein solches Modell.
Ein eisiger Dezembertag, die Sitzbänke leer, nur vereinzelt huschen Gestalten durch den Park. Rund um die Drogenszene auf der Bäckeranlage ist es ruhiger geworden.
Der Winter drängt prekarisierte abhängige Personen in geschlossene Räume, etwa in die neue Anlaufstelle «Konsum und Triage», die die Stadt diesen Herbst im Quartier Enge eröffnet hat. Besonders auffällig ist der Crack-Konsum, die rauchbare Form von Kokain: Seit 2021 ist die Nutzung in Zürich um 25 Prozent gestiegen.
Mehrere Schweizer Städte diskutieren derzeit, ob die kontrollierte Abgabe von Kokain eine Hilfe für Schwerstabhängige sein könnte. In Genf startet nächstes Jahr ein Pilotprojekt, Zürich könnte bald folgen.
«Die Stadt Zürich prüft eine Studie zur kokaingestützten Behandlung», teilt eine Sprecherin der Städtischen Gesundheitsdienste auf Anfrage mit. Derzeit würden rechtliche und medizinische Fragen abgeklärt.
Forschungsergebnisse sind vielversprechend
Wie präsent das Thema in Zürich ist, zeigt die «Fachtagung Schadensminderung». Anfang November tauschten sich städtische Mitarbeitenden, Psychiater:innen und Sozialwissenschaftler:innen intensiv über die Abgabe von Kokain an Suchtkranke aus.
«Es ist eine sehr kontroverse Diskussion», sagte Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie beim Suchtzentrum Arud, an der Tagung. Einige Fachleute seien überzeugt, dass sich das starke Verlangen nach Kokain nicht mit der Droge selbst stillen lasse. Kokain wirkt nur kurz und macht stark abhängig. Beck sieht dennoch viele Vorteile einer staatlichen Abgabe und verweist auf Forschungsergebnisse.
In Peru etwa wurden im Rahmen einer Studie Koka-Tee und Koka-Pastillen während zwölf Monaten an Abhängige abgegeben, mit deutlich mehr konsumfreien Tagen zur Folge. Ein weiterer Versuch fand 1994 in Zürich statt: Zwölf Proband:innen wurden zehn Wochen lang mit einer flüssigen Form von Kokain eingestellt. «Die Menschen haben daraufhin ihren illegalen Kokainkonsum vermindert oder gar eingestellt», so Beck.
Zwar zeigten Studien, dass auch Amphetamine stabilisierend wirken können. Doch gerade bei Schwerstbetroffenen, die die Stadt sonst nur schwer erreicht, könnte die Abgabe von Kokain eine sinnvolle Massnahme sein, findet Beck.
Es gibt auch klare Risiken
Auch in Basel liegt das Thema auf dem Tisch. Das bestätigt Marc Vogel, Suchtexperte und Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Auf Anfrage erklärt er, welche Chancen und Risiken er in einer solchen Massnahme sieht:
Zu den Chancen zählt er:
- Weniger Illegalität: Eine Verschreibung von Kokain könnte crackabhängigen Personen ermöglichen, den illegalen Kokainkonsum zu reduzieren. Ihr Alltag müsste sich nicht mehr beinahe ausschliesslich um Beschaffung und Konsum drehen.
- Mehr Therapieoptionen: Zudem wäre es einfacher, diese Menschen in Behandlungen einzubinden. Sie könnten zu risikoärmeren Konsumformen wechseln oder ihren Gebrauch insgesamt reduzieren – bis hin zur Abstinenz. So würden Zeit und Ressourcen für alternative Tätigkeiten oder Therapien frei.
Doch er sieht auch Risiken:
- Nebenwirkungen: Die Substanz selbst kann erhebliche Nebenwirkungen verursachen, etwa kardiovaskuläre Ereignisse oder Psychosen.
- Unklare Wirksamkeit: Zudem sei fraglich, ob verschriebenes Kokain das Verlangen tatsächlich sättigt oder ob der Konsum zusätzlich steigt.
Vogel selbst setzt sich dafür ein, dass eine solche Abgabe wissenschaftlich begleitet wird – «und nicht als Schnellschuss erfolgt».
Genf geht voran
Wie die «NZZ am Sonntag» berichtet, soll in Genf ab nächstem Jahr schwer drogenabhängigen Personen Kokain abgegeben werden. Die Abgabe wird im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie durch medizinisches Fachpersonal erfolgen.
Noch offen ist, in welcher Form die Droge verabreicht wird. Vermutlich dürfte es eine chemisch ähnliche Variante wie Crack sein, sagt Suchtexperte Daniele Zullino vom Universitätsspital Genf der Zeitung. Die Herstellung eines solchen Präparats könnte in Schweizer Laboren erfolgen.
Die ersten Erfahrungen aus Genf dürften auch für Zürich von hoher Relevanz sein. Wie eine Sprecherin der Stadt erklärt, steht Zürich «im engen Austausch mit Partnern». Konkreter will die Stadt bislang noch nicht werden.
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Studium der Politikwissenschaft und Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen beim Branchenportal Klein Report und der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), zuletzt als Co-Redaktionsleiter. Seit 2023 medienpolitisch engagiert im Verband Medien mit Zukunft. 2024 Einstieg bei Tsüri.ch als Autor des Züri Briefings und Berichterstatter zur Lokalpolitik, ab Juni 2025 Redaktor in Vollzeit. Im Frühjahr 2025 Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz in Berlin.