Jugendkulturhaus Dynamo: Events und Kultur direkt an der Limmat
Post-Besetzung hat das Potenzial, langfristig zu bestehen
Seit der Räumung des Koch-Areals steigt der Druck, Freiräume zu finden. In den meisten Fällen räumt die Polizei besetzte Häuser umgehend. Doch die Zeichen stehen günstig, dass die Post-Besetzung in Wipkingen längerfristig als unkommerzieller Kulturraum bestehen bleibt.
Die grosse Gittertür ist verbarrikadiert. Die Betonmauer mit Graffiti übersät – «besetzt», «wir bleiben» oder «No Photos» stehen da. Der Eingang zur besetzten Post am Wipkingerplatz wirkt nicht gerade einladend – besonders nicht für einen Journalisten mit einer Kamera in der Hand.
Aktivist:innen haben Ende Juni den ersten Stock des alten Postgebäudes besetzt. Wenige Wochen davor scheiterte ein erster Versuch, das leerstehende Gebäude zu besetzen. Nun sind die «Pöstler*innen» – wie sich die Besetzer:innen des Postgebäudes nennen – gekommen, um zu bleiben. An diesem Dienstagnachmittag wirkt die Besetzung verwaist. Doch klingelt man an der Tür, kommt tatsächlich jemand den langen Gang entlang gelaufen und macht auf. Im Inneren des Gebäudes steckt der Charme des Grossraumbüros noch in jeder Ritze. Die Besetzerin, die uns Einlass gewährt, entschuldigt sich für den Gestank – in der Küche schimmelt wohl etwas bei diesen Temperaturen. Das Kernstück der Besetzung ist ein grosser, ausladender Raum mit provisorischer Bar. Wir setzen uns in die Sofa-Ecke.
Grundsätzlich ist die Post-Besetzung offen für alle. Dass Medien empfangen werden, ist aber eher ungewöhnlich. Drei Mitglieder der Gruppierung «Alles wird besetzt» haben sich bereit erklärt, mit Tsüri.ch zu sprechen. Sie stellen klar, dass sie nicht stellvertretend für das Kollektiv reden, sondern sich dem Gespräch als Einzelpersonen stellen. Die drei «kritischen Einzelpersonen» ziehen sich vor dem Gespräch trotzdem kurz zurück, um sich abzusprechen. Das Misstrauen gegenüber Medienschaffenden ist offensichtlich gross und niemand möchte etwas sagen, das dem Kollektiv schaden könnte. Der erste grosse Diskussionspunkt: Dürfen ausnahmsweise Fotos gemacht werden?
Der Druck nach Freiräumen steigt
Die drei Besetzer:innen wirken vielleicht wie frisch politisch aktiviert, doch aus ihnen spricht Erfahrung und Expertise. Es ist offensichtlich nicht ihre erste Besetzung und sie sind gefestigt in ihrer aktivistischen Haltung.
Bei Besetzungen wird zwischen Wohn- und Kulturbesetzungen unterschieden. Während erstere zum Ziel haben, Menschen längerfristig zu behausen und so auf die Problematik der Wohnungsnot aufmerksam zu machen, geht es bei Kulturbesetzungen darum, unkommerzielle Freiräume zu schaffen. Die Post-Besetzung ist im Begriff zu einem offenen Raum für Veranstaltungen aller Art, aber auch grundsätzlich zu einem Aufenthaltsort ohne Konsumzwang zu werden. «Das Bedürfnis nach Raum ist enorm gross», sagt eine der dreien.
In einem ersten Schritt will das Kollektiv die Bedürfnisse und Möglichkeiten nach einem solchen Raum erproben. Dafür finden seit Wochen regelmässig Events wie Rollschuhdisco, gemeinsames Kochen, Kino oder Raves statt.
Besetzungen gehören seit jeher zu Zürich
Dass sich junge Menschen Freiräume in Zürich erkämpfen, ist kein neues Phänomen. Letztlich war das nicht existente Angebot an Jugendkulturräumen mit ein Grund für die 80er-Unruhen in Zürich. Schon 1978 wurde im Schindlergut ein Jugendzentrum errichtet, das aber nach kurzer Zeit durch die Polizei geräumt wurde. Die Liste der besetzten Häuser ist beachtlich. Teilweise gab es mehrere Dutzend Besetzungen gleichzeitig. Mit ganz wenigen Ausnahme wurden aber die allermeisten innert kürzester Zeit geräumt.
Als 1990 Robert Neukomm (SP) neuer Zürcher Polizeivorsteher wurde, kündigte dieser an, nur noch dann zu räumen, wenn die Hausbesitzer:innen eine Abbruch- und Baubewilligung vorweisen. Seitdem wird in der Stadt Zürich erst polizeilich geräumt, wenn zusätzlich zur Strafanzeige entweder eine Abbruch- oder Baubewilligung vorliegt, eine unmittelbare Neunutzung nachgewiesen werden kann oder die Besetzung die Sicherheit von Personen oder denkmalgeschützten Bauten gefährdet. Diese Regel ist in einem Merkblatt festgehalten, an das sich die Stadtpolizei in den meisten Fällen hält.
«Am Ende kam wie üblich die Polizei und danach die Bagger.»
Historiker Thomas Stahel zu Stadt- und wohnpolitischen Bewegungen
Ende der 90er entstanden in Zürich die ersten Kultursquats, also Besetzungen, die nicht zum Wohnen, sondern ausschliesslich für Konzerte, Partys oder Ausstellungen genutzt wurden. So entstanden Veranstaltungsorte, frei von kommerziellen Zwängen. Besetzt wurde in Zürich schon vieles: vom Einfamilienhaus in der Agglo bis zum Fabrikareal in der Stadt. Doch alle hatten sie gemeinsam, dass sie nach wenigen Tagen bis Monaten geräumt wurden. «Am Ende kam wie üblich die Polizei und danach die Bagger», schreibt der Historiker Thomas Stahel in seiner Dissertation zum Thema.
Was kommt nach dem Koch-Areal?
Ab 2006 wurde ein ehemaliges Fabrikgebäude in der Binz besetzt. Danach folgte unmittelbar die Besetzung des Koch-Areals. Somit gab es fast 17 Jahre lang eine Grossbesetzung in Zürich. Vor der endgültigen Räumung des Kochs hatte die Szene Ende 2022 den «Besetzer:innen-Herbst» eingeläutet. Unter dem Motto «Alles wird besetzt» – angelehnt an den Slogan «Alles wird gut» der Wohlgroth-Besetzung in den 90er-Jahren – wurden innert kürzester Zeit diverse leerstehende Liegenschaften besetzt. Unter anderem das Restaurant «Alte Post» in Seebach. Doch keine dieser Besetzungen war von langer Dauer.
Die Besetzung des EWZ-Kesselhauses am Letten im November 2022 sollte ein Vakuum an unkommerziellen Kulturräumen verhindern und laut den Besetzer:innen ein «Sprungbrett für kulturpolitische Freiräume» werden. Doch die Stadt liess das Gebäude nach einer Woche räumen, weil es einsturzgefährdet sei.
Im Februar dieses Jahres wurde schliesslich auch das Koch-Areal endgültig geräumt – ohne Anschlusslösung. Seit dessen Ende steigt der Druck, Freiräume zu finden. Dies belegen Zahlen, die der NZZ vorliegen: In den fast zehn Jahre, in denen das Koch-Areal besetzt war, sank die Anzahl Besetzungen und seit dem Ende des Kochs wird wieder vermehrt besetzt.
«Wir haben der Post keinen ‹easy way out› gegeben.»
Mitglied der «Pöstler*innen»
Nun sehen die Aktivist:innen im ehemaligen Post-Gebäude am Wipkingerplatz den idealen Ort für den nächsten langjährigen Kultursquat. Beim ersten Versuch, das leerstehende Gebäude zu besetzen, räumte die Polizei umgehend. Sie argumentierte, dass die Besetzer:innen weggewiesen worden seien, weil sie sich nicht in der Liegenschaft, sondern auf der Terrasse aufgehalten hätten – einem öffentlich zugänglichen Bereich. «Eine Räumung auf Vorrat», nannten die «Pöstler*innen» das Vorgehen. «Beim zweiten Besetzungsversuch haben wir der Post und der Stadt keinen ‹easy way out› gegeben», lässt sich eine Besetzerin zitieren. Mit einer grossen Party wurden viele Unterstützer:innen mobilisiert und die Besetzung rückte in die Öffentlichkeit – mit vorläufigem Erfolg.
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«Pöstler*innen» versus Post
Solange keine unmittelbare Neunutzung nachgewiesen werden kann, kann das Post-Gebäude nicht geräumt werden. Die Post hat bisher keine konkreten Pläne vorgebracht, da aufgrund geltendem Recht nur eine Nutzung für postalische Zwecke möglich ist. Ein Dialogteam habe das Gespräch mit den Besetzer:innen gesucht, schreibt die Post auf Anfrage. Über die Folgen des Gesprächs möchte Mediensprecher Stefan Dauner aber öffentlich nicht weiter ins Detail gehen. Der Post sei es wichtig, dass das Anwesen mitten in der Stadt sinnvoll genutzt werden kann, so Dauner. «Genau deswegen befindet sich die Post zurzeit auch in Gesprächen mit der Stadt Zürich. Wir möchten zusammen eine Lösung finden, wie wir das Gebäude nutzen können. Wir sind zurzeit in Absprache mit einem potenziellen Interessenten für die Nutzung der Immobilie.»
Dem stehen die «Pöstler*innen» kritisch gegenüber. Aus ihrer Sicht habe kein konstruktives Gespräch mit der Post stattgefunden. «Es wäre schön, wenn die Post uns vertraut, dass wir den Raum sinnvoll bespielen», sagt eine der Aktivist:innen.
Dass sich genug Programm und helfende Hände finden, um den Raum langfristig kreativ zu bespielen, bereite ihnen keine Sorgen, meinen die drei Besetzer:innen. Es sei bisher enorm ermutigend gewesen, wie viele Menschen vorbeigekommen seien. Viele aus dem Quartier hätten sich solidarisch gezeigt, Senior:innen seien zum ersten Mal in einem besetzten Haus gewesen und andere zeigten ihre Unterstützung und spendeten Gegenstände wie zum Beispiel einen Sandwichmaker. Selbst der offizielle Quartierverein Wipkingen steht hinter der Besetzung.
Politische Unterstützung von Links
Im Zusammenhang mit der aktuellen Post-Besetzung reichten die Gemeinderät:innen Moritz Bögli (AL) und Lisa Diggelmann (SP) eine schriftliche Anfrage ein. Sie umfasst Fragen zum Kenntnisstand zur bisherigen (Nicht-)Nutzung und zur Kommunikation mit der Post sowie zur Möglichkeit eines Kaufs der Liegenschaft durch die Stadt. (Wir berichteten.)
Dass sie so breit unterstützt werden, freue die Besetzer:innen, sei indes aber nicht überraschend: «Wir sind nicht die Einzigen, die bedauern, dass das Gebäude leer steht. Es ist ein aktuelles Thema, das Resonanz hat.»
Laut der NZZ könne sich der Quartierverein Wipkingen vorstellen, dass die Wipkinger Jugendarbeit ins Gebäude einzieht. Diesbezüglich haben aber gemäss den Besetzer:innen keine konkreten Gespräche stattgefunden. «Ohne Kooperation mit der Post können wir solche Pläne zurzeit leider nicht machen», so eine der Aktivist:innen. Der Quartierverein war aufgrund Ferienabwesenheit zu keiner Stellungnahme verfügbar.
Wie es jetzt weitergeht, weiss niemand so genau. Vieles im Gespräch mit den Besetzer:innen bleibt vage. Wie viele aktiv hinter der Besetzung stehen, wollen sie nicht preisgeben. Zudem droht ständig eine polizeiliche Intervention. Mit dieser Kriminalisierung umzugehen, sei unangenehm, so die Besetzer:innen. Aber dem könne man die Stärke des kollektiven Zusammenhalts entgegenstellen.
Schlussendlich sehen die «Pöstler*innen» ihre Aktion auch als Aufruf zur aktiven Mitgestaltung Zürichs. «Wir alle können mitbestimmen, was in unserer Stadt passiert», so die Besetzer:innen. Mit diesen Worten endet das Gespräch. Wir verabschieden uns, es gibt ein «Post-Squat»-Transpi mit auf den Weg und die Kamera wird unverrichteter Dinge wieder zurück ins Tsüri-Büro gebracht.
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