«Junge Sans-Papiers haben Angst, ihre ganze Familie zu outen»

Nur wenige Sans-Papiers in der Schweiz machen nach der Schule eine Ausbildung. Die SP-Nationalrätin Céline Widmer setzt sich dafür ein, dass sich das ändert. Mit Erfolg: Eine entsprechende Motion ist erst vergangene Woche von der Staatspolitischen Kommission verabschiedet worden. Warum das gerade für junge Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus wichtig ist, die «Züri City Card» dieses Problem aber nicht lösen kann.

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Die 43-jährige Céline Widmer sitzt seit 2019 im Nationalrat. (Foto: Elio Donauer)

Isabel Brun: Wann waren Sie das letzte Mal froh um ihren Schweizer Pass?

Céline Widmer: Eigentlich jeden Tag. Es ist ein riesiges Privileg, den roten Pass zu besitzen – und das, ohne eigenes Zutun. Als Politikerin, die sich mit Migrationsthemen beschäftigt, wird einem das immer wieder bewusst. 

In den letzten Monaten haben Sie sich ja sehr stark mit den Anliegen von Migrant:innen auseinandergesetzt – nicht nur als Co-Präsidentin der Plattform zu den Sans-Papiers, sondern auch auf dem politischen Parkett.

Genau, Ende Januar 2022 habe ich zusammen mit anderen Nationalrät:innen aus verschiedenen Parteien einen Vorstoss lanciert: Menschen, die abgewiesen wurden oder ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz leben, sollen es in Zukunft einfacher haben, eine berufliche Ausbildung zu machen. Gerade bei jungen Sans-Papiers wäre eine solche Erleichterung wichtig, damit sie nach der obligatorischen Schulausbildung nicht einfach ins Leere fallen. Sie brauchen Perspektiven.

Gemäss der Schweizer Bundesverfassung sind seit 2007 auch Minderjährige ohne Aufenthaltsstatus schulpflichtig. Davor waren sie vom Unterricht ausgeschlossen. Wie viele Sans-Papiers Kinder gibt es betrifft das?

Schätzungen zufolge leben ungefähr 100’000 Sans-Papiers in der Schweiz – ungefähr zwölf Prozent davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Genaue Zahlen sind schwierig zu ermitteln, da Sans-Papiers nirgends registriert sind. Rechtlich gesehen existieren sie nicht – aber das ist natürlich ein Irrglaube: Sie leben und arbeiten mit und unter uns. Meist unter prekären Verhältnissen, da viele weder versichert sind, noch von Unterstützungsangeboten profitieren können.

«Jugendliche, die noch Zuhause wohnen, laufen Gefahr, ihre ganze Familie in Bedrängnis zu bringen.»

Céline Widmer, Nationalrätin und Co-Präsidentin der Plattform Sans-Papiers.ch

Warum melden sich Betroffene nicht bei der Migrationsbehörde?

Weil sie wissen, dass sie aus der Schweiz weggewiesen würden. In Zürich zum Beispiel sind etwa die Hälfte der Sans-Papiers Frauen aus Lateinamerika – einem Land, aus dem hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert wird. Und unser restriktives Asylgesetz sieht nicht vor, dass solche Menschen hier leben dürfen. Wirtschaftsflüchtlinge werden in den allermeisten Fällen zurückgeschickt.

Dass es überhaupt Sans-Papiers gibt, ist die Folge unserer Gesetzeslage?

Etwas spitz gesagt schon. Deshalb sprechen sich die linken Parteien schon lange für eine Regularisierung von Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus aus. Das würde die Lage für die Betroffenen enorm entschärfen.

Einige Politiker:innen bezeichnen das als gesetzeswidrig.

Ja, das versuchen die Bürgerlichen so auszulegen. Das Beispiel «Operation Papyrus» aus dem Kanton Genf beweist das Gegenteil: Dort haben zwischen 2017 und 2018 fast 3000 Personen ohne gültiges Aufenthaltsrecht den B-Ausweis erhalten. Darunter 860 Kinder und Jugendliche. 

Wie ist das zustande gekommen?

Durch politischen Willen und Kompromissbereitschaft. Man hatte erkannt, dass es auch wirtschaftlich gesehen Sinn macht, gut integrierte Sans-Papiers zu regularisieren. Auch den Kindern wegen, die noch weniger für ihre Situation verantwortlich sind als ihre Eltern.

In der restlichen Schweiz gibt es bisher keine vergleichbaren Bestrebungen. Wie funktioniert das, wenn Kinder von Sans-Papiers zwar rechtlich gesehen in die Schule müssen, aber eigentlich gar nicht hier sein dürften? Das ist doch widersprüchlich.

Der Zugang zur Volksschule ist zum Glück verfassungsrechtlich garantiert und die Schulbehörde unterliegt keiner Meldepflicht. Aktuell sehen wir diesbezüglich deshalb keinen Handlungsbedarf. Probleme gibt es aber vor allem dann, wenn die betroffenen Jugendlichen eine nachobligatorische Ausbildung machen wollen. Denn Schulpflicht hin oder her: Ein Kind, das zwar in der Schweiz aufgewachsen ist, dessen Eltern jedoch keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben, ist ebenfalls ein Sans-Papiers. 

Heisst das, dass es für Kinder von Sans-Papiers nicht möglich ist, eine Berufslehre zu machen?

Nicht ganz. Seit 2014 besteht für junge Sans-Papiers die Möglichkeit, für die Dauer der Ausbildung ein Härtefallgesuch einzureichen. Das haben seit der neuen Regelung jedoch nur 61 Personen gemacht. Wenn man von schweizweit 18’000 Kindern und Jugendlichen ohne gültiges Aufenthaltsrecht ausgeht, ist diese Zahl erschreckend gering. 

Womit wir wieder bei Ihrem Vorstoss wären. Dieser hat es vor einer Woche ganz knapp (mit 11 Ja- zu 10 Nein-Stimmen) durch die Staatspolitische Kommission des Nationalrats geschafft und wird nun dem Nationalrat vorgelegt.

Dass wir eine Mehrheit für das Anliegen gefunden haben, hat sicher auch damit zu tun, dass sich verschiedene Organisationen – etwa der Städteverband – für die Lockerung der Bestimmungen ausgesprochen haben. Die Anpassung ist nicht nur im Interesse der betroffenen Person, sondern auch der Gesellschaft und Wirtschaft.

Bedeutet konkret?

Momentan verlangt die entsprechende Verordnung von jugendlichen Personen, die ein solches Härtefallgesuch stellen, dass sie für mindestens fünf Jahre die Regelschule besucht haben. Das haben aber nicht alle. Die Motion der Kommission möchte diese Dauer auf zwei Jahre heruntersetzen. Ausserdem soll es neu möglich sein, das Gesuch anonym einzureichen. 

«Auch mit der Züri City Card würden Sans-Papiers Sans-Papiers bleiben.»

Céline Widmer, Nationalrätin und Co-Präsidentin der Plattform Sans-Papiers.ch

Damit sich die Betroffenen nicht als Sans-Papiers outen müssen?

Ja. Hinzu kommt, dass gerade Jugendliche noch Zuhause wohnen und Gefahr laufen, ihre ganze Familie in Bedrängnis zu bringen. Wir gehen davon aus, dass diese Angst unter anderem der Grund ist, weshalb bisher nur so wenige junge Sans-Papiers die Chance eines Härtefallgesuchs genutzt haben. 

Könnte die «Züri City Card» in solchen Fällen helfen?

Nein, der städtische Ausweis regelt nicht den Aufenthaltsstatus einer Person – auch mit der «City Card» würden Sans-Papiers Sans-Papiers bleiben. Es geht vielmehr darum, die Lebenssituation der Sans-Papiers zu verbessern. Es braucht aber eine nationale Regelung, wie wir sie fordern, damit der Zugang zur Berufslehre erleichtert wird. Auch damit Sans-Papiers Zugang zur Justiz erhalten, braucht es auf kantonaler und nationaler Ebene Änderungen. 

Gegner:innen der Vorlage sprechen bei der «City Card» von einem «Fantasieausweis», einem «faktischen» Bleiberecht.

Das ist Unsinn und nicht das Ziel der Befürworter:innen.

Sondern?

Der Ausweis soll es Sans-Papiers möglich machen, an der Gesellschaft teilzuhaben; ein Badiabo für die Kinder zu machen, in der Bibliothek ein Buch auszuleihen oder zum Beispiel an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen, wo man seinen Namen und Wohnort angeben muss. In der Stadt Zürich gibt es schätzungsweise 10’000 Sans-Papiers, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Sie leben in grosser Unsicherheit. Zu vielen Leistungen, die für uns selbstverständlich sind, haben sie keinen Zugang. Glücklicherweise hat das auch der Stadtrat und der Gemeinderat erkannt. 

Journafonds 2

Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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