Sans-Papiers: Weshalb Jugendliche unter den rechtlichen Bestimmungen leiden - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Emilio Masullo

Projektleiter

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Von Isabel Brun

Redaktorin

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4. Mai 2022 um 21:00

Sans-Papiers: Warum Jugendliche unter den rechtlichen Bestimmungen leiden

In der Schweiz leben schätzungsweise 100’000 Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Ihre rechtliche Lage ist oft sehr unübersichtlich und widersprüchlich. Für Kinder und Jugendliche ist die Situation gar noch prekärer, so Expert:innen.

Erst seit 1991 ist es Kindern von Sans-Papiers erlaubt, die Schule zu besuchen. (Foto: zvg)

Laut Schätzungen leben im Kanton Zürich 19’250 Sans-Papiers. Also Menschen, die zu unserer Gesellschaft gehören, aber keine gültige Aufenthaltsgenehmigung haben. Dies steht in einer Studie, die 2020 vom Amt für Wirtschaft und Arbeit sowie vom Migrationsamt des Kantons in Auftrag gegeben wurde. Genaue Zahlen, wie viele Sans-Papiers sich in der Schweiz aufhalten gibt es nicht, denn sie leben irregulär in der Schweiz und werden nirgendwo systematisch registriert. Gleichzeitig verfügen sie aber auch über Grundrechte. Dazu zählt zum Beispiel das Recht auf Bildung oder Nothilfe. Diese Rechtssituation führt immer wieder zu Unsicherheiten bei Betroffenen und Behörden. Denn oft ist unklar, wie man in der Praxis konkret damit umgehen soll. Mit der «Züri City Card» möchte man dem entgegenwirken und einen lokalen, amtlichen nur in der Stadt Zürich gültigen Ausweis einführen. Über den Rahmenkredit für das Projekt wird am 15. Mai an der Urne abgestimmt. 

Städte als Magnet für Sans-Papiers

Menschen, die hier als Sans-Papiers leben, können oder wollen laut dem Bericht «Sans-Papiers im Kanton Zürich» nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren und nehmen dafür ein Leben in ständiger Angst auf sich. Angst davor, aufzufliegen und ausgeschafft zu werden.  Die meisten Sans-Papiers würden aus Lateinamerika stammen und sind zwischen 18 und 45 Jahren alt. Davon seien rund zehn Prozent minderjährig. In Städten ist die Zahl der Sans-Papiers gemäss Bericht zudem höher als in ländlichen Gebieten. Dies habe damit zu tun, dass es in einer Stadt wie Zürich einfacher sei, im Schatten der Gesellschaft zu leben. 

Organisationen wie die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich, kurz SPAZ, sorgen dafür, dass die Problematik in der Gesellschaft überhaupt diskutiert wird. Die SPAZ setzt sich seit 2005 für die Rechte von Sans-Papiers ein und berät diese zum Beispiel bei der Einschulung von Kindern oder wenn eine Krankenversicherung abgeschlossen werden muss. Zusammen mit ihrem Unterstützer:innen-Netzwerk setzt sich die SPAZ  für pragmatische Lösungen auf rechtlicher Ebene ein. Bei Kindern und Jugendlichen von Sans-Papiers scheint vor allem das Recht auf Bildung immer wieder Thema zu sein.

Recht auf Bildung erkämpfen

Markus Truniger kennt die Situation von minderjährigen Sans-Papiers nur allzu gut. Er war lange Real- und Oberstufenlehrer im Kreis 5. 1985 wechselte er dann aber auf die Fachstelle «Interkulturelle Pädagogik», die der Bildungsdirektion des Kanton Zürich angegliedert ist. Damals hiess diese noch «Ausländerpädagogik». Zu dieser Zeit sei die Situation eine völlig andere gewesen, erklärt Truniger.

Markus Truniger arbeitete bis vor vier Jahren auf der Fachstelle «Interkulturelle Pädagogik» des Kantons. (Foto: Emilio Masullo)

Die Weisung des Regierungsrats sah damals vor, dass Kinder ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schule grundsätzlich nicht aufgenommen werden. Erst ab 1991 war es Kindern und Jugendlichen von Sans-Papiers erlaubt, überhaupt die Schule zu besuchen. Heute gilt eine Regelung, die 2007 von der damaligen SP-Regierungsrätin Regine Aeppli, beschlossen wurde. Darin steht: 

«Melden Eltern ein Kind ohne legalen Aufenthaltsstatus an, teilt die Schulpflege den Eltern mit, dass das Kind in die Schule aufgenommen wird, solange es in der Gemeinde wohnt. Die Schulpflege weist die Eltern darauf hin, dass der Schulbesuch keinen Einfluss auf die Regelung des Aufenthalts hat. Allein die Einwohnerkontrolle und das Migrationsamt sind für die Regelung des Aufenthalts zuständig.»

Heute ist der Grundschulunterricht für Sans-Papiers-Kinder obligatorisch und gewährleistet. Bea Schwager, die Leiterin von der SPAZ, erzählt, dass es trotzdem immer wieder Gemeinden gebe, die diese Weisung bewusst anders interpretieren würden: «Diese umzustimmen, ist teilweise sehr schwierig und mit sehr viel Dialogarbeit verbunden. Zum Glück gibt es solche Fälle immer seltener.» 

Ein Prozess über Jahre

Truniger erinnert sich, dass es früher zwischen der Fremdenpolizei und der Bildungsseite immer wieder zu Konflikten gekommen sei, was das Recht auf Bildung betraf: «Dass dieses heute sozusagen unbestritten ist, ist nicht ganz selbstverständlich.» Es habe viel Überzeugungsarbeit, Diskussionen und Energie gebraucht, um pragmatische Lösungen zu finden und zu erreichen, dass das Recht auf Bildung höher gewichtet werden muss als ausländerrechtliche Bestimmungen.» Dass die Sans-Papiers ihre Kinder überhaupt in den Unterricht schicken, hat auch damit zu tun, dass es den Schulen nicht erlaubt ist, die Personendaten an die Migrationsbehörden weiterzugeben.

Bea Schwager setzt sich seit Jahren für die Rechte von Sans-Papiers ein. (Foto: Emilio Masullo)

Es entstünden aber immer wieder Situationen, in denen es mit der Einschulung von einem Sans-Papier-Kind nicht sofort klappe: «Erstens, weil den Behörden das Wissen über die rechtliche Situation fehlt und zweitens, weil die verantwortlichen Personen bei der Schulbehörde politisch rechts stehen und eine Einschulung aus diesen Gründen blockieren», so Schwager.

Nach der Grundschule fehlen Lösungen

Obwohl die rechtliche Situation widersprüchlich sei, würden Sans-Papiers-Kinder heute fast ohne grössere Probleme die obligatorische Grundschule durchlaufen können, erklärt Truniger: «Wenn sie sich dann mit der Berufslehre befassen, wird es komplizierter.» Denn für einen Lehrvertrag braucht es des Gesetzes wegen eine gültige Aufenthaltsbewilligung. Sackgasse? Nicht unbedingt, wendet der ehemalige Oberstufenlehrer ein.

Seit dem 1. Februar 2013 haben Kinder von Sans-Papiers die Möglichkeit, für die Dauer ihrer Berufslehre ein befristetes Aufenthaltsrecht zu beantragen. Sie können ein Härtefallgesuch stellen. Ein solches ist jedoch an gewisse Bestimmungen geknüpft. Dazu gehört unter anderem, dass der:die Jugendliche in der Schweiz während mindestens fünf Jahren die Schule besucht hat, das Gesuch zwölf Monate nach Schulabschluss eingereicht wurde und die Person gut integriert ist. Zudem muss laut der Verordnung ein:e Arbeitgeber:in gefunden werden, der:die überhaupt bereit ist, diesen Prozess mitzumachen. 

Die eidgenössische Migrationskommission schreibt, dass Schätzungen zufolge 200 bis 400 Jugendliche pro Jahr eine Lehre absolvieren könnten. Die Realität sieht aber anders aus: Seit 2013 sind lediglich 61 Gesuche beim Staatssekretariat für Migration (SEM) eingegangen. Expert:innen erklären sich die kleine Zahl damit, dass sich viele Jugendliche davor fürchten würden, bei einem Lehrstellenantritt ihre Identität offenzulegen zu müssen.

«Die rechtliche Situation von Sans-Papiers ist sehr komplex, teilweise sehr widersprüchlich und für Aussenstehende schwer nachvollziehbar.»

Bea Schwager, Leiterin der SPAZ

Das sieht auch die Kommission so: «Dieses Auseinanderklaffen von potentiellen und tatsächlich eingereichten Gesuchen zeigt, dass die Hürden der Verordnungsbestimmung zu hoch sind und es langfristig eine neue Lösung braucht.» Dass sich in dieser Sache nun auch politisch etwas tut, zeigt eine Motion von SP-Nationalrätin Céline Widmer, die einen erleichterten Zugang von Sans-Papiers zur beruflichen Ausbildung verlangt. Ihr Vorstoss fand in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats eine – wenn auch knappe – Mehrheit.

Pragmatische Lösungen für die Zukunft

«Die rechtliche Situation von Sans-Papiers ist sehr komplex, teilweise sehr widersprüchlich und für Aussenstehende schwer nachvollziehbar», erklärt Bea Schwager von der SPAZ. Damit sich dies ändert, brauche es pragmatische Lösungen, wie Unterstützungsorganisationen von Sans-Papiers fordern würden. Eine solche pragmatische Lösung ist gemäss Schwager die «Züri City Card». Ein Stadtausweis für alle Zürcher:innen – unabhängig von deren Aufenthaltsstatus und Herkunft.

Dieser Stadtausweis soll künftig gegenüber den städtischen Behörden und insbesondere der Stadtpolizei als rechtsgenüglicher Ausweis dienen und so «die Angst der Sans-Papiers im Alltag vor einer Ausweiskontrolle stark abbauen», so Schwager. Weiter würde er diskriminierungsfreien Zugang zu städtischen und privaten Dienstleistungen, sowie zur Justiz ermöglichen. Schwager hofft, dass damit in Zukunft auch die Möglichkeit bestehe, ein Bankkonto abzuschliessen oder einen Miet- oder Arbeitsvertrag zu unterschreiben.

Die Stadtzürcher Bevölkerung stimmt am 15. Mai an der Urne über einen Rahmenkredit für die City Card ab. Erst wenn dieser angenommen würde, wird die Idee weiter ausgearbeitet. Die Idee erhält viel Zuspruch; so machen sich auch Politgrössen wie Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger und Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss stark dafür

Wunschdenken oder schon bald Realität?

Egal, wie die Abstimmung am 15. Mai ausgehen wird: Bea Schwager betont, dass es noch viel Zeit, Energie und Arbeit brauche, um die Probleme zu lösen, mit welchen sich Sans-Papiers täglich konfrontiert sehen. Auch die Gesellschaft und die Politik sei gefordert. Dazu gehört ihrer Meinung nach auch, dass man sich von der Idee verabschiede, dass man die ausländerrechtlichen Bestimmungen zu hundert Prozent durchsetzen könne: «Es ist nicht möglich, alle Personen auszuschaffen, die sich ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz aufhalten.» Darum braucht es laut Schwager in der Gesellschaft einen Perspektivenwechsel: «Sans-Papiers gehören zu Zürich wie alle anderen Menschen auch. Und für ihr Leben braucht es Lösungen.»

Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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