Protest hält an: Erneuter Hungerstreik im Zürcher Ausschaffungsgefängnis

Hinter den Gittern des Ausschaffungsgefängnisses am Flughafen Zürich bleibt die Lage prekär. Nach zwei Todesfällen ist Mitte Juli ein junger Mann in einen Hungerstreik getreten. Seinen Zustand in Haft beschreibt er als «Folter».

Die vergitterte Fassade des Ausschaffungsgefängnisses ZAA
Maximal drei Stunden Hofzeit: Verschiedene Organisationen kritisieren die Haftbedingungen in der Zürcher Administrativhaft. (Bild: Yann Bartal)

Das Essen wird in seine Zelle gebracht, doch er rührt es nicht an, auch Wasser trinkt er nicht – und das über Tage. Ein junger Mann ist Anfang Juli im Zürcher Ausschaffungsgefängnis in Kloten eine knappe Woche lang in einen trockenen Hungerstreik getreten. 

Sein Name ist Youssef, zum Schutz der Privatsphäre wird sein Nachname hier nicht genannt. Er habe sich aus «tiefem körperlichem und seelischem Leid», das er derzeit in der Haft erlebe, zum Hunger- und Durststreik entschlossen. Das schreibt er in einer Erklärung, die das Aktivist:innenbündnis «Wo Unrecht zu Recht wird …» Mitte Juli veröffentlicht hat. Und weiter: «Angesichts der mangelnden medizinischen Versorgung und der unmenschlichen Behandlung sehe ich mich gezwungen, zu diesem letzten gewaltfreien Mittel zu greifen.»

Youssef ist nicht der Erste, der auf anhaltende Missstände im Zentrum für ausländerrechtliche Administrativhaft – so heisst das Ausschaffungsgefängnis offiziell – hinweist. In den letzten Monaten sind zwei Inhaftierte verstorben, sie haben sich mutmasslich das Leben genommen. Zwei weitere Suizidversuche soll es gegeben haben, auch verschiedene Zellenbrände, Hungerstreiks und ein offener Brief der Inhaftierten an die Gefängnisleitung.

Und: Erst vergangene Woche hätte ein Insasse per Flugzeug nach Tunesien ausgeschafft werden sollen, doch kurz vor dem Abflug verletzte er sich mit einer Rasierklinge am Bauch. Der Betroffene sagt, die Polizist:innen hätten ihn dennoch zum Flugzeug gebracht, doch der Pilot habe sich geweigert, die Maschine zu starten. Die Kantonspolizei Zürich schreibt auf Anfrage, dass die Rückführung aufgrund diverser anderer Umstände schon vorher abgebrochen worden sei. Der Fall lässt sich nicht unabhängig überprüfen.

Der Körper macht nicht mehr mit

Die Gefängnisleitung in Kloten wusste von Youssefs Hungerstreik. Wie Rebecca de Silva, Sprecherin des Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung, mitteilt, habe Youssef vier Tage lang keine Mahlzeiten angenommen. Medizinische Tests hätten aber keine akute Dehydrierung aufgezeigt. «Wir respektieren das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen», sagt de Silva. Im Notfall würden Inhaftierte zur medizinischen Überwachung in ein Spital verlegt.

Youssef wurde nach vier Tagen verlegt, jedoch nicht in ein Spital, sondern nach Genf in das Ausschaffungsgefängnis «Frambois». Dort ist er telefonisch zu erreichen. 

«Ich mag nicht mehr», sagt Youssef mit matter Stimme. Den Streik habe er inzwischen aufgegeben, doch besser gehe es ihm nicht. Es sei nicht normal, was mit ihm passiere. «Folter ist das.» Er habe Schmerzen, besonders am Knie, und brauche dringend eine Operation. Das ist mitunter der Grund für seine Verlegung: Sein Anwalt beantragte vor einem Genfer Gericht seine Freilassung, und falls dies nicht möglich ist, eine medizinische Untersuchung durch Spezialist:innen. Denn es braucht ein ausführliches Gutachten, um die medizinische Unzumutbarkeit der Haft zu beweisen.

Derzeit gibt es lediglich einen allgemeinärztlichen Bericht, der Tsüri.ch vorliegt. Darin steht, dass Youssef 2018 sein Kreuzband gerissen und seinen Miniskus beschädigt habe, seither sei das Knie nie richtig behandelt worden. Weiter heisst es, dass er Physiotherapie benötige, doch diese sei im Ausschaffungsgefängnis nicht möglich. Zur Mobilisierung des Knies wurde ihm in Zürich sein Rollstuhl entzogen, stattdessen erhielt er Krücken. Doch Youssef sagt, dass er diese aufgrund von chronischen Schmerzen in den Händen kaum benutzen könne.

Obwohl er erst 27 Jahre alt ist, macht Youssefs Körper nicht mehr mit. Seine Geschichte hat ihre Spuren hinterlassen.

Über zehn Jahre ohne Papiere in Europa

Youssef wurde in einem Slum in Marokko geboren und flüchtete 2015, mit 16 Jahren, über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien. Von dort trieb ihn seine Suche nach Papieren durch Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Niederlande und die Schweiz. Alles, um sich legal ein sicheres Leben aufbauen zu können. Doch auf dieser Suche wurde er wiederholt verhaftet. (Die Republik hat seine Geschichte ausführlich aufgeschrieben.)

Zuletzt in der Schweiz. Seit über zehn Monaten sitzt er schon in Ausschaffungshaft, zuerst acht Monate lang im Frambois bei Genf, bevor Youssef von Mai bis Mitte Juli nach Zürich verlegt wurde. Weshalb der Ortswechsel erfolgte, wurde laut seinem Anwalt nicht bekannt gegeben. In dieser Zeit hat er mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Zum Beispiel, indem er seinen Kopf stark an die Wand geschlagen hätte, dass ein Schädelknochen anknackste. Youssef sagt: «Ich sterbe lieber, als dass ich mich zurück nach Marokko schicken lasse.»  

Die Aktivistin Valeria Godoy von «Wo Unrecht zu Recht wird …» kennt Youssef. «Seine gesundheitliche Situation macht uns grosse Sorgen», sagt sie. Er sei sowohl körperlich als auch psychisch stark angeschlagen.

Eine Gruppe des Bündnisses besucht regelmässig Insassen und versucht, sowohl auf Einzelschicksale als auch auf strukturelle Probleme im Ausschaffungsgefängnis aufmerksam zu machen. Sie kritisieren etwa die maximale Haftdauer von 18 Monaten und fordern schnellere Verfahren bei Ausreisewilligen. «Die psychische Belastung für die Menschen in diesen Gefängnissen ist extrem hoch», sagt Godoy.

Das belegt auch ein Bericht der ODAE‑Suisse (Observatoire romand du droit d’asile et des étrangers), eine NGO, die sich der Überwachung der Anwendung des Asyl- und Ausländerrechts in der Westschweiz widmet. Darin heisst es, dass die Suizidrate in der Administrativhaft in der Schweiz sechs- bis siebenmal höher liegt als in Freiheit.

Kritik der Kommission zur Verhütung von Folter

Den hohen psychischen Druck bestätigt auch Martina Caroni, Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Die Kommission hat in den letzten Jahren alle Ausschaffungsgefängnisse der Schweiz unangekündigt besucht und die Zustände dokumentiert. «Die Ausschaffungshaft ist eine besonders belastende Form der Inhaftierung», sagt Caroni. 

Das liege vor allem daran, dass die betroffenen Personen oft nicht wüssten, was mit ihnen geschehe oder wie lange sie festgehalten würden. «Sie leben in ständiger Ungewissheit über ihre zwangsweise Rückführung», sagt Caroni. Sie seien von ihren Familien getrennt, dürften nicht arbeiten, würden die Sprache kaum verstehen und nur wenig Informationen über ihre rechtliche Lage erhalten.

Im Bericht von 2024 über die Administrativhaft in Zürich beanstandet die NKVT mehrere Punkte. So sei es etwa problematisch, dass der Spazierhof nur während drei aufeinanderfolgender Stunden zugänglich sei. Aus Sicht der Kommission sollte er tagsüber jederzeit offenstehen. 

Transporte zu externen medizinischen Untersuchungen fänden teils unter Fesselung statt, Sicherheitszellen seien unzureichend ausgestattet. Zudem fehle ein Suizidpräventionskonzept. «Ein solches Konzept schärft das Bewusstsein für die Problematik, legt Abläufe fest und verpflichtet zu regelmässigen Schulungen», sagt Caroni. Gerade in dieser besonders belastenden Haftform sei das unerlässlich.

«Die Situation ist für die eingewiesenen Personen wie auch für das Personal ungewohnt und emotional herausfordernd.»

Rebecca de Silva, Sprecherin des Zürcher Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung

Kein Suizidpräventionskonzept

Auch über ein Jahr nach Veröffentlichung des Berichts kann das Ausschaffungsgefängnis noch kein entsprechendes Konzept vorweisen. Auf Nachfrage schreibt die Medienverantwortliche Rebecca de Silva, dass «neben den bestehenden Präventionsmassnahmen auch die Frage eines strukturierten Suizidpräventionskonzepts Teil einer laufenden Weiterentwicklung» sei.

Auch die Dauer des täglichen Aufenthalts im Spazierhof blieb unverändert. Noch immer könnten die Insassen bis zu drei Stunden täglich raus. «Vorbehalten bleibt die Einschränkung auf mindestens eine Stunde Aufenthalt im Freien aus disziplinarischen oder Sicherheitsgründen.»

De Silva erklärt auch, dass die Suizide der letzten Monate die ersten in der Administrativhaft seit zehn Jahren gewesen seien und «die Situation für die eingewiesenen Personen wie auch für das Personal entsprechend ungewohnt und emotional herausfordernd» sei. Derzeit überprüfe man die Abläufe mithilfe von Fachpersonen, die psychische Gesundheit der eingewiesenen Personen sei ein zentrales Anliegen. 

Mehrheit wird rechtlich nicht unterstützt

Regelmässig vor Ort im Ausschaffungsgefängnis ist auch Sarah Röthlisberger, Head of Detention beim Verein AsyLex, der Asylsuchende und Personen in Ausschaffungshaft rechtlich unterstützt und vertritt. Über die Haftbedingungen weiss Röthlisberger, dass die Inhaftierten neu das Internet nutzen dürfen und sich dadurch zunehmend innerhalb der Haft und mit der Aussenwelt vernetzen könnten. 

«Teilweise findet gar nie eine gerichtliche Überprüfung statt, ob die Inhaftierung überhaupt gerechtfertigt ist.»

Sarah Röthlisberger, Head of Detention bei AsyLex

Gleichzeitig beobachte sie, dass Suizidversuche zunehmen würden. Das sei besonders alarmierend, sagt Röthlisberger. Grundsätzlich problematisch sei zudem, dass die Mehrheit der Inhaftierten keine rechtliche Unterstützung erhalte. Auch Zahlen des Zürcher Bezirksgerichts, die dem Tages-Anzeiger vorliegen, bestätigen dies: Von 208 Personen im Jahr 2024 verfügten lediglich 90 über eine Rechtsvertretung.

Grund dafür ist, dass die Organisation der Rechtsvertretung den Inhaftierten selbst überlassen bleibt. «Bei gewissen Haftarten findet gar nie eine gerichtliche Überprüfung statt, ob die Inhaftierung überhaupt gerechtfertigt ist», sagt Röthlisberger. 

Gefängnis soll umgebaut werden

Auch die baulichen Rahmenbedingungen werfen Fragen auf. Das Bundesgericht schreibt vor, dass die Administrativhaft sich infrastrukturell klar von der strafrechtlichen Haft unterscheiden muss. In der Praxis bleibt dieser Unterschied jedoch oft marginal, so auch in Kloten, wo das Ausschaffungszentrum nach wie vor stark an ein klassisches Gefängnis erinnert. So befindet sich die Einrichtung auch in einem ehemaligen Strafvollzugsgebäude.

Hinzu kommt, dass die Haftbedingungen laut dem Bundesgericht «entsprechend freier» sein müssen als in der strafprozessualen Untersuchungshaft, etwa mit Gemeinschaftsräumen und Freizeitaktivitäten. Dies kritisieren Organisationen wie AsyLex und die NKVF: In Zürich seien die Bedingungen kaum vom regulären Strafvollzug zu unterscheiden.

Verbesserung könnte ein geplanter Umbau bringen. Mitte Juni hat die Flughafen Zürich AG ein entsprechendes Baugesuch eingereicht. Das bisherige Haftgebäude soll künftig als reines Administrationszentrum genutzt werden, daneben ist ein neues Polizeigebäude geplant.

Nach Suizidversuch in die Isolationszelle

Ungeachtet baulicher Vorhaben kommen weiterhin auch psychisch schwer belastete Personen in die Ausschaffungshaft. Die Aktivistin Valeria Godoy erzählt von einem Häftling, der immer nur knapp antworte, sich nicht an vorangegangene Gespräche erinnern könne und auf sie einen besorgniserregenden Eindruck hinterlassen habe. 

«Der Mann gehört dringend in richtige psychiatrische Behandlung», sagt Godoy. Zwar besuchen auch Psychiater:innen regelmässig das Gefängnis, doch sei diese Hilfe unzureichend. «Es werden hohe Dosen an Psychopharmaka verschrieben, therapeutische Unterstützung gibt es allerdings kaum.» 

«Psychische kranke Menschen gehören in Behandlung und nicht eingesperrt.»

Martina Caroni, Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter

An drei Tagen der Woche kommen Psychiater:innen der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in die Ausschaffungshaft, bei schweren suizidalen Fällen können die Personen für einige Tage in eine Klinik verlegt werden. Werden sie bei ihrer Rückkehr ins Ausschaffungsgefängnis als selbst- oder fremdgefährdet eingestuft, droht ihnen zuerst die Isolationszelle. 

«Psychische kranke Menschen gehören in Behandlung und nicht eingesperrt», sagt Martina Caroni von der NKVT. Daher verlangt die Kommission zur Verhütung von Folter, dass Inhaftierte kurze Zeit nach ihrer Ankunft ärztlich untersucht werden, sowohl körperlich als auch psychisch.

«Ich bin unschuldig» 

Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Youssef steht das Urteil des Genfer Verwaltungsgerichts noch aus. Er sagt: «Ich bin unschuldig.» Er habe kein Verbrechen begangen und sitzt dennoch im Gefängnis. «Das ist unmenschlich und illegal.» Das schreibe auch ChatGPT. Dort habe er kürzlich seinen ganzen Fall eingegeben. 

Er habe keine Hoffnung mehr und dunkle Gedanken, die Situation im Frambois sei schlimmer als in Zürich. Youssef spricht am Telefon stets solange, bis er unterbrochen wird. Stille erträgt er nicht. Angesprochen auf Perspektiven nach einem negativen Entscheid, wird er ruhig. Und sagt dann: «Bei einem negativen Urteil werde ich erneut in einen Hungerstreik treten. Und dann kann es sein, dass die Wärter eines Tages meine Zellentür öffnen und ich tot auf dem Boden liege.»

Zwei Tage nach dem Gespräch hat das Genfer Verwaltungsgericht in erster Instanz entschieden: Sowohl der Antrag auf Freilassung als auch das Gesuch um ein medizinisches Gutachten wurden abgelehnt. 

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 zog es Kai nach Berlin. Dort absolvierte er ein Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz.

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