«Männergewalt gegen Frauen hat in der Politik seit Jahren keine echte Priorität»
Mit den Aktionstagen «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wird derzeit auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam gemacht. Um die Situation für Frauen und Mädchen zu verbessern, sieht die Zürcherin Nadia Brügger aber die Politik in der Pflicht. Ihr Rechercheprojekt «Stop Femizid» schliesst dabei eine wichtige Lücke im System.
Derzeit finden die internationalen Aktionstage «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt, die jedes Jahr vom 25. November bis 10. Dezember durchgeführt werden. Es geht darum, auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam zu machen. Auch Sie setzen sich seit Jahren für das Thema ein und haben das Rechercheprojekt «Stop Femizid» gegründet. Wie kamen Sie dazu?
Im Grunde dokumentieren wir seit 2019 alle Femizide, die in der Schweiz verübt werden und von denen wir über die Medien mitbekommen, manchmal informieren uns auch Angehörige. Es begann als kleines Privatprojekt auf meinem Twitter-Kanal, wo ich mit dem Zählen von Femiziden begann, weil es mich verstört hat, wie wenig Aufmerksamkeit dem Thema zukam.
Später habe ich mich mit Sylke Gruhnwald, Pauline Martinet und Franziska Willimann zusammengetan, um das erste Rechercheprojekt zu Femiziden in der Schweiz auf die Beine zu stellen. Dabei hatten wir Unterstützung von feministischen Kollektiven, NGOs und Frauenhäusern – es war uns wichtig, mit anderen feministischen Akteurinnen in den Austausch zu gehen.
Was ist das Ziel des Rechercheprojekts?
Ziel ist es, einen zentralen Ort zu haben, der zeigt, wie häufig Männer in der Schweiz Frauen ermorden. Es geht auch darum, den Begriff Femizid überhaupt erst ins Bewusstsein zu bringen. Das Zählen von Femiziden verstehen wir als kollektive Wissensproduktion: Ohne diese Zahlen bleibt das Problem unsichtbar. Heute bezieht sich das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) auf unsere Daten, was zeigt, wie sehr dieses Monitoring zuvor gefehlt hat.
Warum erfasst der Bund die Fälle nicht?
Männergewalt gegen Frauen hat in der parlamentarischen Politik seit Jahren keine echte Priorität. Ich will daran erinnern, woher die Schutzangebote für Frauen, die wir heute kennen und in Anspruch nehmen können, kommen: aus den Kämpfen der autonomen Frauenbewegung der Siebziger Jahre, der Frauenhausbewegung. Es gibt also eine Geschichte davon, wie Frauen für ihren eigenen Schutz sorgen, den sie vom Staat nicht kriegen.
Auf Bundesebene fehlt es am Willen, das Problem konsequent anzugehen – das sehen wir in allen möglichen Bereichen: Frauenhäuser arbeiten an der Belastungsgrenze, für viele bestehende Angebote gibt es keine nachhaltige Finanzierung, überall fehlt Geld. Was auch fehlt, ist ein nationaler Aktionsplan, wie die Schweiz mit Gewalt gegen Frauen umgehen möchte. Dazu gehören auch eine viel detailliertere Datenerhebung und systematische Fallanalysen von Femiziden. Es ist zu hoffen, dass sich langsam etwas bewegt.
«Gewalt ist für die Täter ein Mittel, um ihre Macht und den Verfügungsanspruch über die Partnerin zu sichern.»
Nadia Brügger, Mitinitiantin von «Stop Femizid»
Der Begriff Femizid hat in der Schweiz keine strafrechtliche Definition. Auch in anderen Ländern wird ein Femizid nicht als solcher betrachtet, sondern als Mord kategorisiert. Warum ist es eine Herausforderung, Femizide auf staatlicher Ebene zu definieren?
Weil die gesamtgesellschaftliche Diskussion um Femizide in der Schweiz – auch im Vergleich zu anderen Ländern – erst in den Anfängen steckt. Es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs, viele offizielle Stellen haben ihn lange gar nicht erst verwenden wollen.
Noch 2020 hat der Ständerat die Verwendung des Begriffs abgelehnt. Eine Definition von Femizid könnte folgendermassen lauten: Femizide sind Tötungen von Frauen, die im Kontext patriarchaler Strukturen und Geschlechterdifferenzen verübt werden.
Welche Muster oder Risikofaktoren können darauf hinweisen, dass eine Frau besonders gefährdet ist?
Aus der Forschung wissen wir, dass Männer, die Femizide begehen, meist sehr geplant vorgehen und entschlossen handeln. Der zwanghafte Wunsch, die Kontrolle über die Frau und die Beziehung zu haben, steht oft am Anfang. Das äussert sich über extreme Eifersucht, Bedrohungen, Stalking, Überwachung.
Gewalt ist für die Täter ein Mittel, um ihre Macht und den Verfügungsanspruch über die Partnerin zu sichern. Dahinter steht ein tief verankertes patriarchales Denken, das historisch weit zurückreicht. In der Schweiz sehen wir das beispielsweise darin, wie lange Frauen politische Rechte verwehrt wurden oder dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1992 eine Straftat ist.
Anfang November hat der Bund eine Präventionskampagne lanciert, die «Ohne Gewalt» heisst. Sie soll aufklären, wie geschlechtsspezifische Gewalt aussehen und wo sie anfangen kann. Wie schätzen Sie die Wirkung solcher Kampagnen ein?
Es ist sehr begrüssenswert, dass es nun die erste nationale Präventionskampagne gibt – auch dieses Budget wollte der Bundesrat übrigens vor zwei Jahren streichen. Es hat den Druck der Zivilgesellschaft gebraucht, um sie ins Entstehen zu bringen.
Das Ziel der Kampagne ist es, patriarchale Gewalt ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken, wo sie auch hingehört. Betroffene sollen besser darüber informiert werden, an welche Stellen sie sich wenden können. Ich verstehe die Kampagne aber auch als Aufruf an die Zivilgesellschaft: Wenn du das Gefühl hast, dass jemand Gewalt erlebt, frag nach! Biete deine Hilfe an, und glaube Betroffenen, die von ihren Erlebnissen erzählen.
Die Schweiz ist 2018 der Istanbul-Konvention beigetreten. Damit hat sich das Land eigentlich verpflichtet, gegen Gewalt an Frauen aktiv vorzugehen. Warum kommt die Prävention jedoch nur schleppend voran?
Das Netzwerk Istanbul Konvention hat es in seinem Bericht deutlich festgehalten: Die Schweiz versagt nach wie vor bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention und der konsequenten Bekämpfung von Gewalt. Die Ressourcen fehlen, ebenso fehlt eine klare nationale Strategie.
Die nationale Notrufnummer 142, über die wir seit Jahren sprechen, ist ein weiteres Beispiel für die hinausgezögerte Prävention. Ursprünglich war die Lancierung der Nummer für November 2025 geplant, nun wurde sie wieder auf 2026 verschoben. Da fragt man sich schon, warum das so lange dauert. Der logische Schluss lautet: Frauenleben haben keine Priorität.
Einige Massnahmen wurden in gewissen Kantonen bereits umgesetzt. Beispielsweise das Opfertelefon und das Projekt «Forensic Nurses» im Kanton Zürich. Doch diese Massnahmen sind beide relativ neu.
Einige Kantone wollen mit gutem Beispiel vorangehen und bauen ihre Anlaufstellen aus, während es diese in anderen Kantonen noch nicht einmal gibt. Die heutige Situation ist absurd: Abhängig davon, in welchem Kanton ich lebe, kann ich mit angemessener Unterstützung rechnen – oder eben nicht.
Viele User verbreiten über die sozialen Medien schädliche und gewaltvolle Ideologien. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte «Manosphere», die den Feminismus als Feindbild sieht. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Die sozialen Medien sind ja kein abgetrennter Raum, sondern Teil unserer Realität. Der offene Frauenhass, der einem online entgegenschlägt, entspringt einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die tief in misogynen Denkmustern steckt. Es geht also grundsätzlich darum, sich als Gesellschaft antifeministischem und – damit oft einhergehend – rechtsextremem Denken entgegenzustellen.
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Nach der Ausbildung zur Kauffrau EFZ beim Sozialdepartement der Stadt Zürich folgte die Berufsmaturität an der KV Zürich mit Schwerpunkt Wirtschaft. Anschliessend Bachelorabschluss in Kommunikation und Medien mit Vertiefung Journalismus an der ZHAW. Erste journalistische Erfahrungen als Praktikantin in der Redaktion von Tsüri.