Trotz Abstimmungsflop wollen Verliererparteien keine Halbkantone
Immer wieder muss die Stadt bei kantonalen Abstimmungen einstecken. Eine Aufteilung in Zürich-Stadt und Zürich-Land könnte zwar die Grabenkämpfe beenden, bleibt laut dem Politologen Michael Hermann aber unrealistisch.
Es ist schon wieder passiert.
Die Städte Zürich und Winterthur sind bei den Abstimmungen vom 30. November dem Stadt-Land-Graben zum Opfer gefallen: Sowohl die Mobilitätsinitiative als auch die Abstimmung über das Vorkaufsrecht gingen zugunsten der bürgerlich geprägten Kantonsbevölkerung aus.
Tatsächlich driften städtische und ländliche Regionen in Zürich politisch immer weiter auseinander. Gemäss einer aktuellen Befragung von Sotomo war der Graben in den letzten 45 Jahren noch nie so tief. Bei Abstimmungen würden grosse Städte am häufigsten überstimmt – mit zunehmender Tendenz.
Angesichts der Verschärfung steht die Frage einer Trennung in Halbkantone wie ein Elefant im Raum. Ob der Kanton in Zürich-Stadt und Zürich-Land aufgeteilt werden soll, wird politisch regelmässig diskutiert. Zuletzt warf sie der SVP-Politiker Marcel Suter 2023 im Kantonsrat auf, doch die Forderung findet auch bei linken Parteien Anklang.
«Reizvoll», aber unrealistisch
Die Idee einer Trennung sei «reizvoll», schreibt Oliver Heimgartner, Präsident der SP Stadt Zürich, auf Anfrage. «Wäre die Stadt ein eigener Kanton, könnte man viel mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, den Mittelstand stärker entlasten, solidarischer sein gegenüber Sans-Papiers und den Klimaschutz viel effektiver vorantreiben.»
Trotzdem plant die SP Heimgartner zufolge in naher Zukunft nicht, eine Kantonsspaltung zu forcieren. Auch, weil der politische Weg steinig ist: Über eine Einführung von Halbkantonen entscheiden der Bund und das Schweizer Stimmvolk, weshalb die Idee kaum mehrheitsfähig wäre. Stattdessen wolle sich die Partei stärker dafür einsetzen, auch die Menschen ausserhalb der Stadt Zürich von ihrer Politik zu überzeugen, so Heimgartner.
«Die Vorstellung eines Kantons Zürich-Stadt, der sich als Insel der Glückseligen gebart, ist eine dystopische Vorstellung der besonders bürgerlichen Art.»
David Garcia Nuñez, AL-Gemeinderat
Ähnlich sieht das Eticus Rozas, Co-Präsident der Grünen Stadt Zürich: Eine Kantonstrennung möge auf den ersten Blick verlockend erscheinen. «Wir sind jedoch klar der Meinung, dass solche Abspaltungsfantasien die bestehenden Konflikte nicht lösen würden – sie würden sie lediglich verlagern und verschärfen», schreibt er. Ziel sei vielmehr ein Kanton Zürich, «der solidarisch zusammenarbeitet und Lösungen sucht, die allen Bewohner:innen dienen».
Dieser Wunsch hegt auch die Alternative Liste (AL). Die Partei sei davon überzeugt, dass man Zürich grösser denken müsse. «Die Vorstellung eines Kantons Zürich-Stadt, der sich als Insel der Glückseligen gebart, ist eine dystopische Vorstellung der besonders bürgerlichen Art», schreibt der Gemeinderat David Garcia Nuñez im Namen der AL.
Auch bei der GLP Stadt Zürich ist eine Aufteilung in Stadt- und Land-Kanton kein Thema: «Sie wäre weder praktisch noch zielführend, schon nur aufgrund der erheblichen Doppelspurigkeiten bei Gesetzen und Zuständigkeiten», heisst es vom Co-Präsidium.
Der Grund: Der Halbkanton Zürich-Stadt müsste dann kantonale Hauptaufgaben wie Bildung, Gesundheit oder Sicherheitsstrukturen übernehmen, was zu einem immensen administrativen Aufwand und hohen Kosten führen könnte. Anstatt neue Grenzen zu ziehen, brauche es «funktionierende, gemeinsame Lösungen für einen vielfältigen Kanton», so die GLP.
Basel versuchte Wiedervereinigung
Dass sich der Vorschlag bisher nicht durchgesetzt habe, liege vor allem am enormen Aufwand, der bei einer Aufteilung in Halbkantone entstehen würde, sagt Michael Hermann. Der Politologe und Geschäftsleiter von Sotomo untersucht das Spannungsfeld zwischen Stadt- und Landbevölkerung seit vielen Jahren.
«Städte werden im Kanton Zürich die politische Minderheit bleiben.»
Michael Hermann, Politologe
Er sagt: «Diesen Graben, über den wir sprechen, besteht nur auf einer politischen Ebene. In den meisten Bereichen sind das Land und die Stadt eng miteinander verknüpft.» Bei einer Unterteilung in Halbkantone müsste der Kanton ihm zufolge deshalb «künstlich entflochten» werden.
Zudem würde es Zürich als Kanton innerhalb der Schweiz stark schwächen, weil viele wichtige Institutionen in der Stadt wie das Universitätsspital oder die ETH nur in Zusammenarbeit finanziert und weiterentwickelt werden könnten, so Hermann.
Welche Folgen das haben kann, zeigt ein Blick nach Nordwesten der Schweiz. Der Stadtkanton Basel-Stadt leidet bis heute unter der Kantonstrennung von 1833: Hohe Steuern führten zum Wettbewerbsnachteil. Mehrmals gab es Versuche, die Halbkantone wieder zu vereinen – 2014 scheiterte eine entsprechende Initiative, weil sich die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Land dagegen aussprachen.
Städte bleiben politische Minderheit
Diese Schwierigkeiten sind sich auch die meisten Parteien bewusst, weshalb es laut Hermann unwahrscheinlich ist, dass eine Kantonstrennung irgendwann Realität wird. Der Politologe sieht andere Strategien, wie der Stadt-Land-Graben überwunden werden könnte: «Städte werden im Kanton Zürich die politische Minderheit bleiben. Entsprechend müssen sie die ausserstädtische Stimmbevölkerung bei ihren politischen Forderungen besser mitdenken.»
Weiter dürfe man nicht vergessen, dass die Stadt auch über Anpassungen bestimme, die vom Rest akzeptiert werden müssten. Hermann nennt das Beispiel von Verkehrsanliegen, die auch Personen betreffen, die von der Agglomeration in die Stadt pendeln.
Trotzdem lasse es sich nicht gänzlich verhindern, dass die Städte bei kantonalen Abstimmungen dem Kanton unterlegen sind. Dafür seien sie politisch zu unterschiedlich, sagt Hermann.
Die Verliererparteien der vergangenen Abstimmungen wollen künftig den Fokus noch stärker auf gegenseitiges Verständnis legen. «Lebensqualität soll nicht an der Stadtgrenze aufhören», heisst es beispielsweise bei der GLP.
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.