Nach mehreren Todesfällen: Kritik an Zürcher Ausschaffungshaft
Zwei Todesfälle im letzten Monat, Häftlinge im Hungerstreik und ein offener Brief der Insassen. Zu Besuch in der Ausschaffungshaft beim Zürcher Flughafen.
Abdelmalek M. starb nachts, alleine in seiner Zelle in der Ausschaffungshaft Zürich. Er hatte Jahrgang 2003. Andere Mitinsassen beschreiben ihn als zurückgezogen und verunsichert. Er war alleine in Europa. Im Gefängnis zu sitzen, habe ihm das Gefühl gegeben, ganz unten angekommen zu sein – ein Krimineller zu sein, erzählen die Mitgefangenen.
Am 1. April verbrachte M. seinen 22. Geburtstag im Ausschaffungsgefängnis. Der Tag dürfte ausgesehen haben wie alle anderen auch seit seiner Inhaftierung: morgens Frühstück in der Zelle, danach ein Spaziergang im Hof. Vielleicht hat er ein wenig gearbeitet, die Küche geputzt oder das Essen für die anderen aufgewärmt. Mittagessen in der Zelle. Danach mit dem festgeschraubten Laptop im Zimmer über Facebook seine Familie kontaktiert. Ständig mit dabei: die Ungewissheit, wann die Polizei ihn abholt, wie es weitergeht. Abendessen in der Zelle. Für die Nacht eine Tablette, um wenigstens ein bisschen schlafen zu können. Morgens Frühstück in der Zelle.
Am 19. Mai habe er aufgehört zu essen und zu trinken – das sagen Mitinsassen. Dem widerspricht die Gefängnisleitung: «Im Zusammenhang mit Hungerstreik sind derzeit Fehlinformationen im Umlauf. Es ist keine Person nach trockenem Hungerstreik [Verweigerung von Essen und Trinken, Anm. d. R.] verstorben», schreibt die Medienstelle auf Nachfrage. Die Aussagen lassen sich bisher nicht unabhängig überprüfen. Fakt ist: Sieben Tage später, am 26. Mai, ist Abdelmalek M. tot.
Es ist der zweite Todesfall innerhalb eines Monats in der Ausschaffungshaft am Flughafen Zürich. Anfang Mai nahm sich ein 62-Jähriger aus der Ukraine das Leben. Laut Mitinsassen war er psychisch schwer belastet und hatte zuvor bereits Suizidversuche unternommen.
Laut dem Aktionsbündnis «Wo Unrecht zu Recht wird...» habe es weitere zwei schwere Suizidversuche und drei Zellenbrände im letzten Monat gegeben. Wie Tsüri.ch Anfang Juni berichtete, trat auch der kriegsverletzte Baban Ali in einen neuntägigen Hungerstreik, bevor seine Ausschaffung vorläufig aufgeschoben wurde.
Zu Besuch in der Ausschaffungshaft
Seit zwei Monaten sitzt Khalil Achraf Filali in Ausschaffungshaft. Das Gefängnis befindet sich direkt neben dem Flughafen Zürich und will eigentlich kein Gefängnis sein. Stattdessen heisst es «Zentrum für ausländerrechtliche Administrativhaft» kurz: ZAA.
Filali ist 31 Jahre alt, spricht mit einer rauen, fast heiseren Stimme fliessend Deutsch. Gemeinsam mit anderen Insassen hat er von Hand einen offenen Brief verfasst, in dem sie menschlichere Haftbedingungen und ein Ende der Zwangsausschaffungen fordern.
Menschen wie Filali, die ausgeschafft werden sollen, können in der Schweiz in sogenannte Administrativhaft genommen werden. Das Schweizer Recht ermöglicht eine Inhaftierung bis maximal 18 Monate. Filali wie auch seine Mitinsassen sind nicht in Haft, weil sie eine Straftat begangen haben. Stattdessen soll die Haft sicherstellen, dass die Ausschaffung vollstreckt werden kann.
Gemäss Urteilen des Bundesgerichts muss sich die Ausschaffungshaft strikt vom Strafvollzug unterscheiden. Im ZAA haben die Insassen Zugang zum Internet und dürfen täglich Besuch empfangen. Doch die Ausschaffungshaft am Zürcher Flughafen ist in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Der Gefängnischarakter ist allgegenwärtig: Gitter vor den Fenstern, schwere Zellentüren in den Gängen, Stacheldraht säumt das Gebäude.
Die Ausschaffungshaft in Kloten verfügt über 130 Plätze. Im vergangenen Jahr traten 1400 Menschen in die Ausschaffungshaft ein und wieder aus, schreibt die Medienstelle des Justizvollzugs auf Anfrage. Im Durchschnitt verbringen die Inhaftierten 22 Tage dort. Meist in einem Zustand der Ungewissheit über die Dauer ihrer Inhaftierung und der Angst vor der bevorstehenden Ausschaffung.
Khalil Filali ist bereits seit zwei Monaten in Ausschaffungshaft. «Katastrophal», sagt er auf die Frage, wie es ihm gehe. Bis zum 5. Juni habe er sich zusammen mit 50 weiteren Insassen während acht Tagen im Hungerstreik befunden – als Widerstand gegen die Haftbedingungen und Reaktion auf den Tod des 22-jährigen Abdelmalek M. «Er war unser Freund», sagt Filali.
Filali erzählt, er stamme aus Libyen. Nach Libyen kann er jedoch nicht ausgeschafft werden, da dafür kein Abkommen existiert. Die Behörden vermuten allerdings, dass Filali aus Algerien kommt und versuchen ihm eine algerische Staatsangehörigkeit nachzuweisen. Algerien wiederum nimmt ihn nicht auf – er sei kein Staatsangehöriger. Solange die Behörden keine Lösung finden, sitzt er weiter in Ausschaffungshaft.
Offener Brief an die Gefängnisleitung, das SEM und den Kanton
Im offenen Brief, den Khalil Filali und seine Mitgefangenen an die Gefängnisleitung geschrieben haben, fordern sie systematische Änderungen: eine Begrenzung der Haftdauer und die rasche Rückführung jener, die zur Ausreise bereit sind. Ausserdem eine konsequente und professionelle Behandlung psychischer Erkrankungen sowie die Abschaffung von Isolationszellen. Sie machen damit auf strukturelle Missstände aufmerksam, die weit über das Zürcher Ausschaffungsgefängnis hinausreichen.
Obwohl die Administrativhaft auf schwerwiegende Weise in die Rechte der Betroffenen eingreift, werden die Inhaftierten vor Gericht mehrheitlich nicht vertreten. Die Rechtsanwältin Antigone Schobinger bemüht sich schon länger darum, dass sich das ändert. Sie ist im Vorstand des Vereins «Pikett Administrativhaft Zürich», das einen schnellen Zugang zu einer Rechtsvertretung in Ausschaffungshaft sicherstellen will. Weniger als die Hälfte der Inhaftierten seien vertreten, obwohl sie monatelang in Haft sind, erklärt Schobinger. «Ich gehe davon aus, dass wenn mehr juristisch vertreten wären, auch weniger inhaftiert werden würden.»
Gefängnisleitung bezieht Stellung
Beim Besuch im ZAA hat sich auch Jeannette Bucher bereiterklärt mit Tsüri.ch zu sprechen. Bucher leitet die Ausschaffungshaft und ist verantwortlich für zurzeit über 100 eingewiesene Menschen und ebenso viele Mitarbeitende.
Zu Beginn des Gesprächs betont Bucher, dass die Todesfälle für alle sehr belastend seien. Doch weder beim 62-jährigen noch beim 22-jährigen Toten habe es Warnhinweise gegeben, versichert Haftleiterin Bucher. Auch sagt sie, dass die beiden Todesfälle mit keinem Hungerstreik in Verbindung standen. Auf die Frage, wie es sein konnte, dass ein junger Mann in Haft stirbt, sagt Bucher: «Wenn jemand sterben will, ist das fast nicht zu verhindern.» Die Staatsanwaltschaft hat – wie bei Todesfällen in Institutionen des Justizvollzugs üblich – Untersuchungen eingeleitet.
Die Aussagen Buchers stehen im Widerspruch zu den Aussagen der Insassen. Dass Personen einzelne Mahlzeiten verweigerten, komme selten vor und werde jeweils genau protokolliert, so die Haftleiterin: «Die Behauptung, 50 Insassen hätten sich im Hungerstreik befunden, entspricht eindeutig nicht der Wahrheit.»
«Psychisch enorm belastend»
Das Schlimmste an der Ausschaffungshaft Zürich sei, dass sie überhaupt existiere, sagt Hanna Gerig vom Solinetz. Seit mehreren Jahren koordiniert sie Gefangenenbesuche im ZAA. «Es ist einfach krass, dass man Leute einsperrt, die nichts gemacht haben.» Aus ihrer Erfahrung hat sie nicht den Eindruck, dass die Bedingungen in der Ausschaffungshaft am Flughafen Zürich besonders schlecht seien. Sie kritisiert jedoch, dass sich die Ausschaffungshaft überhaupt in einem Gefängnis befinde. «Diese schreckliche Umgebung in Kombination mit der Ungewissheit, wie es weitergeht, ist psychisch enorm belastend.»
Bis die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft zu den zwei Todesfällen veröffentlicht werden, kann es Jahre dauern. Auch wie es für Filali weitergeht, weiss niemand. Bisher hat er keine Rechtsvertretung. Er möchte am liebsten wieder arbeiten als Sanitär oder als Lüftungstechniker.
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Yann hat an der Universität Zürich einen Master in Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie abgeschlossen. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er bei 20Minuten, Tsüri.ch und der SRF Rundschau. Beim Think & Do Tank Dezentrum war Yann als wissenschaftlicher Mitarbeiter und in der Kommunikationsleitung tätig. Seit 2025 ist er Teil der Tsüri-Redaktion. Nebenher ist er als Freelancer im Dynamo Zürich und bei Dachsbau Sounds unterwegs.