Vorläufig frei: Baban Ali aus der Ausschaffungshaft entlassen
Baban Ali kämpfte einst gegen den IS und wurde dabei schwer verletzt. Mittlerweile lebt er seit fast zehn Jahren in der Schweiz. Nun soll er ausgeschafft werden – obwohl der Kanton Aargau die Annahme seines Härtefallgesuchs empfohlen hat.
Die schweren Gittertore der Ausschaffungshaft in Kloten schieben sich träge zur Seite. Auch die drei Metalltüren dahinter öffnen sich zögerlich, als wollten sie niemanden wirklich einlassen. Der Körperscanner piept schnell und automatisch.
Der Besuchsraum ist hell, die Wände in abwechselndem Gelb und Dunkeltürkis gestrichen, der Boden in ein unpassendes Grün getaucht. In drei Ecken gibt es Sitzgruppen, an einer Wand ein bunter Kindertisch aus Plastik, überhäuft mit Plüschtieren und Spielzeug. Vor den Fenstern sichern massive Metallgitter den Blick nach draussen, wo Flugzeuge mit dumpfem Grollen über die Dächer ziehen.
Es scheint, als wolle der Ort nicht, dass man lange bleibt. Und tatsächlich, wer hier landet, verschwindet meist schon bald wieder. So war es auch bei Baban Ali vorgesehen. Über eine Woche sass er in Ausschaffungshaft, sein Flug in den Nordirak war für den 3. Juni gebucht.
Doch statt bald 3400 Kilometer weiter südöstlich zu landen, wird Baban Ali an diesem Dienstagabend nur rund 50 Kilometer westwärts sein. Denn das Migrationsamt Aargau hat vor wenigen Minuten entschieden: Die Haft wird aufgehoben. Am frühen Abend verlässt Ali die Anstalt. Er ist frei – zumindest vorerst.
Vom Krieg gezeichnet
Noch ist es Montagnachmittag, Ende Mai, kurz nach halb drei. Baban Ali tritt in den Besucherraum. Der rechte Arm endet am Ellenbogen, an der linken Hand fehlen Zeige- und Mittelfinger. Eine Prothese stützt Alis rechtes Knie. Er ist schlank, knapp 1,80 Meter gross, trägt ein beiges Tanktop, grüne Hosen. Seine Haare sind dunkel, mit ersten grauen Strähnen durchzogen. Er wirkt älter, als es seine 34 Jahre vermuten lassen.
Baban Ali wurde am 16. Januar 1991 Qala Diza, einer kurdischen Stadt in der Region Sulaimaniya geboren. Er wächst mit drei Brüdern auf, besucht das Gymnasium, arbeitet später als Friseur. Der Vater ist Mathematikprofessor, der älteste Bruder Lehrer.
Im August 2014 marschiert der sogenannte Islamische Staat in die jesidische Stadt Şengal ein. «Ich musste mitansehen, wie Hunderte Frauen, Kinder und Alte nach Syrien verschleppt wurden», sagt Ali. Er schliesst sich dem bewaffneten Widerstand an.
So erzählt er es, während seine linke Hand unruhig gestikuliert. Auf dem Unterarm blitzt ein Tattoo hervor: «2+2=1» – ein Verweis auf die vier geteilten Regionen Kurdistans, wie er sagt, die trotz aller Grenzen ein gemeinsames Volk symbolisieren.
Kurz nach seinem 24. Geburtstag verfehlt ihn knapp eine Bombe. «Ich weiss nicht, ob es eine Drohne war oder ein Fliegerangriff», sagt Ali. Als er wieder zu sich kommt, fehlen ihm Unterarm und Finger, das Knie ist zerfetzt, der Rücken von Splittern durchbohrt. Er hebt sein Shirt, eine rosafarbene Narbe zieht sich über den Bauch, die Haut ist von Brandwunden gezeichnet. In einem nahegelegenen Krankenhaus in Şengal wird er sechsmal operiert. «Man sagte mir, man könne nichts mehr für mich tun», sagt Ali. «Und dass ich wohl nie mehr werde laufen können.»
Gemeinsam mit seinem Bruder Pavel flieht Baban Ali weiter nach Athen, ins Metropolitan Hospital – eine Klinik für Kriegsverletzte. Er kann kaum noch gehen, verbringt Monate im Bett. Allmählich kommt er zur Ruhe. Doch je mehr sich sein Körper erholt, desto lauter wird das Erlebte: die Bilder von Şengal, die Toten, die Ohnmacht. Die Erinnerungen lassen ihn nicht los, sie verdichten sich zu dunklen Gedanken. Ali geht es zunehmend schlechter.
Später, in der Schweiz, diagnostiziert ein Arzt bei Ali eine posttraumatische Belastungsstörung – ausgelöst durch «multiple traumatische Erfahrungen im Kontext von Krieg sowie Migration». So steht es im Arztbericht vom Juli 2024.
Asylverfahren, Härtefallgesuch und ein Hungerstreik
Baban Ali und sein Bruder Pavel beschliessen, in die Schweiz zu reisen, in der Hoffnung auf bessere medizinische Versorgung. Mit einem LKW-Schlepper gelangen sie nach Mailand, von dort mit einem Auto weiter nach Lugano, schliesslich ins Empfangs- und Verfahrenszentrum in Altstätten im Kanton St. Gallen. Am 22. Februar 2016 stellen sie ein Asylgesuch. Baban Ali gibt zu Protokoll, wegen seiner kurdischen Herkunft und kämpferischen Vergangenheit im Irak verfolgt zu werden. Drei Jahre wird er auf den Asylentscheid warten.
In der Asylunterkunft im Aargau hilft er bei Reinigungsarbeiten, übersetzt für andere Geflüchtete, besucht Deutschkurse, schliesst neue Freundschaften. Gemeinsam mit ihnen besucht er zu Heimspiele des FC Aarau. Freund:innen, Bekannte und Betreuungspersonen beschreiben ihn als offen, hilfsbereit, rücksichtsvoll – als einen «guten Menschen».
«Ich könnte nicht zu meiner Familie zurück. Damit würde ich auch sie in Gefahr bringen.»
Baban Ali
Seinen erlernten Beruf als Friseur muss er aufgeben. Doch er wolle arbeiten, sagt er. Mehrmals versuchen Freunde, ihm eine Aushilfsstelle zu vermitteln, jedes Mal ohne Erfolg. Die zuständige Behörde, so sagt Ali, lehnt die Gesuche stets ab.
Im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts heisst es hingegen, aus den Akten lasse sich nicht entnehmen und werde auch nicht behauptet, dass Baban Ali sich in den Jahren vor dem asylrechtlichen Arbeitsverbot um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemüht oder Arbeitseinsätze geleistet habe.
Im April 2019 erhält Baban Ali Post vom SEM. Sein Asylgesuch werde abgelehnt, es liege keine relevante Verfolgung vor. Eine Rückkehr in den Irak sei «zumutbar». Auch gesundheitlich bestehe keine «existenzielle Gefährdung», so die Einschätzung der Behörden. Im August 2021 weist das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab. Die Wegweisung ist rechtskräftig.
Im Januar 2023 stellt Pascal Ammann, der Ali im Rahmen eines Programms für Menschen mit Ausreisepflicht begleitet, ein Härtefallgesuch. Für beide ist klar: Müsste Ali in den Irak zurückkehren, wäre dies lebensgefährlich. «Ich könnte nicht zu meiner Familie zurück», sagt Ali. «Damit würde ich auch sie in Gefahr bringen.»
«Ich habe viele Härtefallgesuche begleitet – aber dass selbst der restriktive Kanton Aargau einen Fall als begründet ansieht und das SEM trotzdem ablehnt, habe ich noch nie erlebt.»
Pascal Ammann, Begleiter von Ausreisepflichtigen
Das Migrationsamt Aargau empfiehlt, dem Härtefallgesuch stattzugeben, teilt auf Anfrage aber mit, dass es sich aufgrund des laufenden Verfahrens, des Amtsgeheimnisses sowie aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht zum konkreten Fall äussern könne.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hingegen lehnt ab. Die Begründung: Baban Alis Integration sei nicht «überdurchschnittlich», eine Rückkehr in den Irak zumutbar. So steht es in den Akten. Das SEM äussert sich auf Nachfrage aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zum Einzelfall.
Pascal Ammann versteht die Entscheidung nicht: «Ich habe viele Härtefallgesuche begleitet – aber dass selbst der restriktive Kanton Aargau einen Fall als begründet ansieht und das SEM trotzdem ablehnt, habe ich noch nie erlebt.» Zumal es sich nicht um administrative Gründe handle, wie etwa eine fehlende Passbeschaffung, sagt Ammann. Auch medizinisch sei der Fall klar: Baban Ali leide schwer – körperlich wie psychisch.
Das bestätigt das medizinische Verlaufsprotokoll, das bei seiner Einweisung in die Ausschaffungshaft am 16. Mai aufgenommen worden ist. Der zuständige Arzt erklärt ihn darin für nicht reisefähig. Fünf Tage später wird der Befund nachgeschärft. In dicker, roter Schrift steht im Bericht vom 21. Mai: «Die eP (eingewiesene Person) ist gemäss Bericht nicht flugtauglich!!»
Drei Tage später kommt ein anderer Arzt zum gegenteiligen Schluss – Baban Ali wird erneut als flugtauglich eingestuft. Das SEM hält an der geplanten Ausschaffung fest.
Dass medizinische Einschätzungen sich rasch ändern können, zeigt ein aktuelles Parlamentsgeschäft zur Frage, wie der Bund medizinische Gutachten bei Rückführungen prüft. Laut den Vorgaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) müssen im Einzelfall die behandelnden Ärzt:innen einen aktuellen Bericht erstellen und neue medizinische Informationen laufend einbeziehen. Ändert sich der Gesundheitszustand während des Verfahrens, müssen Fachleute die Situation vor einer Rückführung erneut beurteilen. Bund und Kantone teilen sich die Verantwortung für die Umsetzung, was die Abläufe zusätzlich komplex macht. Für Betroffene wie Ali bleibt deshalb häufig offen, wie stark ihr Gesundheitszustand das Verfahren tatsächlich beeinflusst.
In seiner schriftlichen Begründung zum Fall Baban Ali hält das SEM ausserdem fest: Eine Rückkehr in den Irak sei zumutbar. Ali habe den grössten Teil seines Lebens dort verbracht, sei mit den lokalen Verhältnissen vertraut, verfüge über ein familiäres Netzwerk. Auch gesundheitlich bestehe keine existenzielle Gefährdung, trotz anerkannter Einschränkungen. Weiter schreibt das SEM, dass der Härtefallartikel «nicht das Ziel verfolgt, eine ausländische Person gegen die Folgen eines Krieges oder des Missbrauchs staatlicher Gewalt zu schützen.» Alis Lebenssituation sei – verglichen mit anderen abgewiesenen Asylsuchenden – nicht in gesteigertem Masse gefährdet.
Heimat auf Zeit
Am 14. Mai erhält Baban Ali die Vorladung zur Ausschaffungshaft. Auch sein Bruder Pavel soll abgeschoben werden. «Er ist weniger gefährdet als ich», sagt Ali. Denn Pavel habe nicht im Krieg gekämpft, sondern sich zivil engagiert. Kurz nach Haftantritt reicht Pascal Ammann im Namen von Ali erneut ein Härtefallgesuch.
Im Besucherraum der Ausschaffungshaft sitzt Ali auf der Stuhlkante, der Rücken gekrümmt, die Schultern schwer, als würden unsichtbaren Fäden sie nach unten ziehen. Seit seinem Haftantritt vor rund eineinhalb Wochen ist er im Hungerstreik – ein stiller Protest gegen das, was ihm bevorsteht.
«Mir geht es sehr schlecht», sagt er leise und tippt sich an die Schläfe. Seine psychische Verfassung sei fragil, er leide unter massiver Schlaflosigkeit, die Schmerzen in der Prothese hätten sich verstärkt. Früher habe ihm Bewegung geholfen, vor allem Sport. Aber das gehe hier nicht.
«Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe», sagt er. «Ich habe für die Menschen gekämpft. Warum werde ich nun bestraft?»
Dann die unerwartete Wende: Auch das zweite Härtefallgesuch findet im Aargau Gehör. Die Haft wird aufgehoben, die beiden Brüder dürfen die Anstalt noch am selben Abend verlassen. Sie werden zurück in die Asylunterkunft in Suhr gebracht, in der sie bereits vor der Inhaftierung gelebt haben.
Das Migrationsamt Aargau teilt auf Anfrage mit, dass es sich aufgrund des laufenden Verfahrens, des Amtsgeheimnisses sowie aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht zum konkreten Fall äussern könne.
«Ich will einfach nur schlafen», sagt Ali, «und mich bedanken». Bei all jenen, die ihm geholfen hätten. Für den Moment ist die Ausschaffung gestoppt – der Flug wurde annulliert. Ob er in der Schweiz bleiben kann oder in den Irak zurückmuss, ist noch offen. Das letzte Wort hat das SEM.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.