«Wer wo und wie wohnen darf, ist eine Klassenfrage»
Sollen Ortsansässige bei der Vergabe von Wohnraum bevorzugt behandelt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich vermehrt die Zürcher Politik. Die Sozialgeograf:innen Hanna Hilbrandt und Nouri Abdelgadir blicken dieser Entwicklung besorgt entgegen.
Isabel Brun: Am Stichtag 1. Juni 2024 standen in der Stadt Zürich von 10’000 Wohnungen nur 7 leer – die aktuellen Zahlen von 2025 werden Mitte August veröffentlicht. Denken Sie, das Resultat wird ähnlich tief ausfallen?
Hanna Hilbrandt: Ja, die Lage auf dem Zürcher Wohnungsmarkt ist nach wie vor angespannt. Im Jahr 2024 wurden 2630 neue Wohnungen erstellt, aber auch 840 abgerissen. Der Bestand ist also nur um 1790 Wohnungen gewachsen.
Angesichts von Bevölkerungswachstum und Verdrängung reicht das nicht annähernd, um die Nachfrage zu decken. Dieses Missverhältnis wird sich auch in der Leerwohnungsziffer widerspiegeln. Doch auch wenn die Zahl schockiert, vermag sie die Krise nicht vollumfänglich darzustellen.
Wie meinen Sie das?
Hilbrandt: Die Leerwohnungsziffer ist ein quantitatives Messwerkzeug. Sie sagt uns lediglich, dass das Angebot knapp ist, aber nicht, für wen: Menschen mit einem tiefen sozioökonomischen Status leiden besonders stark, während Gutverdienende nicht im gleichen Masse von der Krise betroffen sind.
Sind sie die Gewinner:innen im Spiel um die Vergabe von Wohnraum?
Nouri Abdelgadir: Aktuell gewinnt, wer nicht umziehen muss: Bestandsmieten sind um ein Vielfaches tiefer als Neumieten. Im Fall von Mieter:innen, die umziehen müssen, ist die Zahlungsfähigkeit entscheidend.
Bei der Wohnungsbelegung schauen Verwaltungen von privaten Hauseigentümer:innen fast ausschliesslich auf die Solvenz. Entsprechend gross ist die Konkurrenz für Mieter:innen in unteren Einkommensklassen. Viele sind mittlerweile gezwungen, mehr als ein Drittel ihres verfügbaren Einkommens für die Miete auszugeben.
Laut dem Bundesamt für Statistik bezahlen Menschen ohne Schweizer Pass in der Stadt Zürich fast ein Viertel mehr Miete als Schweizer Staatsbürger:innen. Überrascht Sie das?
Hilbrandt: Nein, überhaupt nicht. Was mich eher überrascht hat, waren die Begründungen, die hierfür in den Medien zu lesen waren. So hiess es zum Beispiel, dass Menschen ohne Schweizer Pass weniger Eigentum hätten oder sie eher unter Zeitdruck stehen würden, eine Wohnung zu finden. Diese Erklärungen sind nicht überzeugend.
Warum nicht?
Hilbrandt: Es mag richtig sein, dass Menschen ohne Schweizer Pass weniger Eigentum haben, aber das sagt nichts über deren Kosten am Mietmarkt aus. Weiter suggeriert das Argument, dass Nicht-Schweizer:innen stärker unter Zeitdruck stehen, dass die meisten neu nach Zürich kommen. Das stimmt nicht. Etwa die Hälfte der Zürcher:innen ohne Schweizer Pass hat eine Niederlassungsbewilligung, ist also schon sehr lange hier.
Wo sehen denn Sie die Gründe?
Hilbrandt: Menschen ohne Schweizer Pass haben einen schlechteren Zugang zu gemeinnützigem und somit günstigem Wohnraum. Zahlen des Bundesamts für Wohnungswesen zeigen, dass der Ausländer:innenanteil in Genossenschaftswohnungen geringer ist als in anderen Wohnformen. Auch in städtischen Wohnungen sind Nicht-Schweizer:innen mit 23 Prozent unterrepräsentiert. Immerhin hat ein Drittel der Wohnbevölkerung in Zürich keinen Schweizer Pass.
Abdelgadir: Diese Problematik zeigt sich auch in der räumlichen Verteilung auf Quartiersebene. Gute Beispiele hier sind Saatlen und Friesenberg; beide Quartiere haben einerseits einen sehr hohen Genossenschaftsanteil und andererseits einen sehr tiefen Ausländer:innenanteil. Nirgends wohnen so wenige Menschen ohne Schweizer Pass wie im Friesenberg. Dabei gilt es aber natürlich zu bedenken: Es gibt nicht «die» Ausländer:innen.
Wie meinen Sie das?
Abdelgadir: Es gibt Personen, die schon seit Jahren in Zürich wohnen, aber in der Statistik als Ausländer:innen erfasst werden, weil sie nicht eingebürgert sind. Relevanter ist deshalb der sozioökonomische Status von Wohnungssuchenden – wer wo und wie wohnen darf, ist eine Klassenfrage.
«Die Wohnkrise kann nicht über Einteilungen in ortsansässig und zugezogen gelöst werden.»
Nouri Abdelgadir, Sozialgeograf
Hilbrandt: Das zeigt sich auch in aktuellen Debatten, um den sogenannten «Einheimischenbonus». Darin werden Expats, also Migrant:innen mit höherem Einkommen, als nicht-migrantisch geframet. Das erlaubt es leichter, Ausschlusskriterien zu definieren.
Bei migrantisierten Menschen – also Menschen, die als migrantisch gelesen werden – sähe man sich schneller mit dem Rassismusvorwurf konfrontiert. Obwohl es sich natürlich auch um Diskriminierung handelt, wenn man Expats aufgrund von ihrem Pass auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt.
Mit Migrationsfragen beschäftigte sich in den letzten Monaten auch die Zürcher Wohnpolitik. So forderte die SVP im Januar, dass Ansässige bei der Vergabe von städtischen Wohnungen Vorrang haben sollten. Die SP unterstützte den Vorstoss. Wenig später brachte die kantonale FDP den Vorschlag eines «Einheimischenbonus» ein. Im Frühling doppelte die SVP mit einer Initiative nach, die verlangt, dass Schweizer:innen im Kanton Zürich bei der Wohnungsvergabe Vorrang haben sollen.
Abdelgadir: Narrative, die Migration und Bevölkerungswachstum mit der Wohnkrise verbinden, gibt es im gesellschaftlichen und politischen Diskurs schon lange. Neu ist allerdings die Idee, «Einheimische» bei der Verteilung von Wohnraum pauschal zu bevorzugen – und dass diese in den Parlamenten ernsthaft diskutiert sowie von Mitte-Parteien unterstützt werden.
Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Abdelgadir: Es ist erschreckend, dass die Forderungen so schnell so konkret und radikal wurden. Es begann vergleichsweise vorsichtig mit dem Vorschlag, ansässige Zürcher:innen bei städtischem Wohnraum stärker zu berücksichtigen und endete mit einer Initiative, die sehr tiefgreifend und klar diskriminierend ist.
Dabei wird Migration zunehmend als Ausnahmesituation geframed: «Aufgrund der Dringlichkeit können wir solche Massnahmen umsetzen.» Gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, wer es «verdient» hat, hier zu wohnen.
«Der Einheimischenbonus unterstützt rechte Positionen und macht diese salonfähig.»
Hanna Hilbrandt, Sozialgeografin
Was dabei komplett vergessen geht: Die Wohnkrise kann nicht über Einteilungen in ortsansässig und zugezogen gelöst werden. Nur weil wir für Zugewanderte den Zugang zu preisgünstigem Wohnraum einschränken, gibt es nicht automatisch mehr davon.
Warum verfolgt die Politik trotzdem diesen Weg?
Hilbrandt: «Die Politik» gibt es nicht. Die Gründe, weshalb Parteien diese Logik verfolgen, sind unterschiedlich. Hier lohnt sich ein Blick auf unsere Nachbarländer.
Zum Beispiel zeigen Studien aus Deutschland, dass Wähler:innen, die ihre Wohnung verlieren oder auch nur Angst vor einem Statusverlust auf dem Wohnungsmarkt haben, zum Teil den Ideen extrem rechter Parteien wie der AfD folgen. Sie bieten Menschen eine einfache Erklärung für ein komplexes Problem.
Aber der Vorschlag des Einheimischenbonus in der Schweiz stammt nicht von einer rechtsextremen Partei, sondern von der FDP.
Hilbrandt: Trotzdem ist er problematisch. Der Einheimischenbonus macht ein Erklärungsangebot für die Wohnungskrise, das sich ausschliesslich auf Zuwanderung bezieht. Damit unterstützt dieser Vorschlag rechte Positionen und macht diese salonfähig – vor allem, wenn sie von Mitte-Parteien mitgetragen werden. Das hat wiederum Folgen für die Demokratie.
Inwiefern?
Hilbrandt: Mal abgesehen davon, dass es diskriminierend ist, Wohnungen aufgrund von Staatsbürgerschaften zu vergeben, ist es ein populistischer Vorschlag. Er will Bürger:innen vor dem vermeintlich Fremden schützen, ohne dass er den geringsten Effekt auf die Wohnungskrise haben wird. Es ist ein Problem für Demokratien, wenn Regierungen es nicht schaffen, die wesentlichen Probleme ihrer Bevölkerung zu lösen.
Abdelgadir: Vor allem die SVP-Initiative «Recht auf Heimat: Wohnige für oisi Lüüt» zielt darauf ab, dass es ein Wir-gegen-die-anderen geben soll. Das ist natürlich Quatsch. Menschen ohne Schweizer Pass sind nicht schuld an der Wohnkrise.
Bräuchte es statt Massnahmen gegen Migration nicht sogar Massnahmen, damit migrierte Menschen besser geschützt werden – und diese beispielsweise nicht ein Viertel mehr Miete bezahlen müssen wie bisher?
Hilbrandt: Die beste Anti-Diskriminierungs-Politik wäre, zu verhindern, dass Menschen aus ihren Quartieren verdrängt werden, und gleichzeitig mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.