Gemeinderats-Briefing #87: Ein Bijou mit Pissoir
Das Angebot des öffentlichen Veloverleihsystems soll deutlich ausgebaut werden, neben städtischen Mitarbeitenden sollen die Aussenquartiere davon profitieren. Vom Kosten-Nutzen-Verhältnis sind nicht alle überzeugt.
Taylor Swift lässt auch die Zürcher Politik nicht kalt. Zwei Stunden, bevor die Stimme des US-Popstars abermals aus dem Letzigrund in die Stadt hinausschallte, hatten gleich mehrere Gemeinderät:innen Redebedarf zum Konzert am Tag zuvor.
Marcel Tobler (SP) wies auf die Unsicherheit unter den Anwohnenden hin. Es sei bis zum Tag des Konzerts unklar gewesen, wie stark die Bewegungsfreiheit rund um das Stadion eingeschränkt werde. «Es wäre gut, wenn man nächstes Mal weiss, was gilt», sagte er. Nicolas Cavalli (GLP) erläuterte, dass die Medien angefangen hätten, über einschränkende Massnahmen zu spekulieren und dies die Unsicherheit noch vergrössert habe. Er wünscht sich für solche Anlässe eine vorgängige Medienkonferenz.
Bernhard im Oberdorf (SVP) erklärte, man habe nun einen Vorgeschmack auf weitere Grossanlässe wie die Rad-WM im Herbst und die Einschränkungen, die diese mit sich brächten. Und SVP-Fraktionspräsident Samuel Balsiger schaffte es, auch bei diesem Thema wieder die Migration in den Vordergrund zu stellen. Die sei nämlich schuld an der Terrorgefahr, und wegen jener brauche man überhaupt so viele Sicherheitsmassnahmen bei Anlässen. Naja. Lassen wir den Massengeschmack und die ganz simplen Kausalketten hinter uns und begeben uns in die Tiefen der Stadtpolitik.
Grosses Thema vor den Sommerferien war gestern wieder einmal der Veloverkehr. Für einmal ging es aber nicht um Velorouten, sondern um das Verkehrsmittel selbst: Das Velo. Und zwar nicht das eigene, sondern jenes, das man leiht, wenn man kein eigenes vor Ort hat. Zürich führte vor zehn Jahren eine Ausschreibung für ein öffentliches Veloverleihsystem durch. Diese gewann die damalige Post-Tochter PubliBike, die einige Jahre später mit dem Betrieb des Züri Velos begann.
Nun will die Stadt das Angebot unter dem Namen «Züri Velo 2.0» stark ausweiten, um insbesondere die städtischen Randgebiete besser zu versorgen. 250 statt wie bisher 150 Stationen und eine Verdopplung der Flotte auf 2500 Velos hat sie laut Weisung vorgesehen.
Zu dieser «Grundleistung», wie der Stadtrat die Investition von über 16 Millionen Franken über die Vertragsdauer von zehn Jahren nennt, wollte er noch eine Maximalvariante drauflegen. Diese beinhaltete die Option auf eine zusätzliche Erweiterung oder Verdichtung des Netzes um maximal 50 Stationen sowie die Einführung eines Business-Abos für Mitarbeitende der Stadt Zürich, um die unrentablen städtischen Dienstvelos zu ersetzen. Das hätte zusätzliche Kredite von insgesamt 6 Millionen Franken zur Folge gehabt, die Gesamtsumme wäre über 20 Millionen Franken geklettert und hätte der Stimmbevölkerung vorgelegt werden müssen.
Ganz so viel werden es nun aber doch nicht. Da sich in der vorberatenden Kommission offenbar keine Mehrheit für die Maximalvariante finden liess, fanden SP, Grüne, AL und Mitte/EVP dort einen Kompromiss. Sie stellten einen Änderungsantrag für ein Modell, das bei einer Gesamtinvestition von ungefähr 19 Millionen Franken zu stehen kommt.
«Sie machen heute etwas für sich im Kreis 3, aber nicht für uns in den Aussenquartieren.»
Sven Sobernheim (GLP) übt Kritik an einer Erweiterung des PubliBike-Angebots.
Worin besteht der Kompromiss? Auf die Option von zusätzlichen Stationen wird verzichtet, die Business-Abos für die Stadt sollen aber kommen. Die städtischen Dienstvelos seien in die Jahre gekommen, so Sandra Gallizzi (EVP), es gebe unter ihnen auch keine E-Velos. Da die PubliBike-Flotte künftig zu 60 Prozent aus E-Bikes bestehen soll, könne so im hügeligen Zürich ein zusätzlicher Anreiz zum Umstieg für die städtischen Angestellten geschaffen werden.
Wenig überraschend waren davon weder die SVP noch die FDP überzeugt. Aber auch die GLP wollte dem Kompromiss nicht zustimmen. PubliBike habe von Anfang an rote Zahlen geschrieben, so Carla Reinhard. Es stelle sich die Frage, wieso die Stadt dieses Unternehmen subventionieren solle. Drei Viertel aller Fahrten würden über die von der Stadt getragenen Business-Abos absolviert, für andere Nutzer:innen sei der Preis von 3.50 Franken beziehungsweise 5.50 Franken für ein E-Velo im Vergleich zur Konkurrenz wie Lime zu viel. Am Ende subventioniere die Stadt jede PubliBike-Fahrt mit zwei Franken. Für ein Ja der GLP müsse zuerst das Business-Modell überarbeitet werden, bevor man das Angebot ausweite.
Reinhards Fraktionskollege Sven Sobernheim stellte den Anspruch, die Randgebiete besser zu erschliessen, infrage. In hügeligen Aussenquartieren wie seinem Wohnort Seebach funktionierten Freefloating-Systeme ohne feste Stationen besser, argumentierte er. Die E-Bikes von PubliBike hätten nicht einmal eine Gangschaltung. «Sie machen heute etwas für sich im Kreis 3, aber nicht für uns in den Aussenquartieren», schloss er.
Das Pissoir bleibt
Vielen Menschen – darunter zählte bis vor kurzem auch ich – ist gar nicht klar, was die Stadthausanlage ist. Denn oft wird die grosse Fläche vor dem Gebäude der Nationalbank einfach mit dem gegenüberliegenden Bürkliplatz am Seeufer gleichgesetzt. Dabei ist der eigentlich nur eine besonders hübsche Schiffsanlege mit Kiosk und WC. Die Stadthausanlage dagegen ist ein «Bijou» und die «Krönung der städtebaulichen Achse» Bahnhofstrasse (Davy Graf, SP) mit Kiosk und Pissoir.
Letzteres war erst vor kurzem durch die Medien gegeistert, als klar wurde, dass die Stadt bei ihrer geplanten Gesamterneuerung des Platzes plant, das Pissoir durch ein Züri-WC für alle zu ersetzen. Beat Oberholzer (GLP) und Martina Zürcher (FDP) hatten flugs reagiert und ein Postulat für den Erhalt des Pissoirs eingereicht, das gestern mit der entsprechenden Weisung zur Gesamterneuerung behandelt wurde.
Ihr Argument: Der Erhalt des Pissoirs käme auch Menschen zugute, die im Sitzen pinkelten, da diese dann weniger lange anstehen müssten. Zudem drohe mit dem Abbruch eine Erhöhung der Wildpinklerquote. Bis auf die SP konnten dem Vorstoss alle Fraktionen zustimmen und das Pissoir bleibt erhalten. SP-Gemeinderat Patrick Tscherrig argumentierte, das Gebiet rund um die Stadthausanlage sei jenes mit der höchsten WC-Dichte in Zürich.
Ausser dem Pissoir hatten im Zuge der Planungen aber noch ganz andere Themen zu reden gegeben. Der Platz soll durch ein Baumdach künftig fast vollständig beschattet sein. Die dafür nötigen zusätzlichen Bäume hätten teilweise dort gestanden, wo heute Marktfahrende ihre Stände haben oder zum Aufbau rangieren müssen.
Man habe sowohl Vertreter:innen der Marktfahrenden als auch vom regelmässig dort stattfindenden Flohmarkt in die Kommission eingeladen und mit ihnen das Gespräch gesucht, erläuterte Davy Graf. Nun habe man einen Kompromiss gefunden, indem man zum einen die Baumscheiben, die im Boden das Wasser für die Bäume fassen, so klein wie möglich dimensioniere. Zum anderen plane man die Bauarbeiten so, dass das Weihnachtsgeschäft für die Marktfahrenden gerettet sei.
In den Lobgesang nicht ganz einstimmen wollte David Garcia Nuñez (AL). Er erinnerte daran, dass es für diese «minimalen, aber für die Betroffenen doch immens wichtigen» Änderungen vonseiten des Stadtrats ein von allen Fraktionen unterschriebenes Postulat sowie zwei Petitionen gebraucht habe. «Volksnähe sieht anders aus», resümierte er, bevor alle Fraktionen dem Kompromiss zustimmten.
Weitere Themen
- «Mich begeistert die Brücke in ihrer schlichten Eleganz», erklärte Markus Knauss (Grüne) gestern zur neuen Rathausbrücke, die das aktuelle Bauwerk aus den Siebziger Jahren ersetzen soll. Auch wenn sich mehrere Parlamentarier:innen über die Kostenexplosion von dereinst geplanten 30 Millionen auf nun knapp 60 Millionen Franken ärgerten, stimmten alle Fraktionen bis auf die SVP der städtischen Weisung für den Neubau zu. «Ihr Design kann man nicht kritisieren», fand deren Vertreter Derek Richter: «Sie hat einfach keines.»
- Für einmal erreichte die Nahost-Diskussion gestern auch den Gemeinderat. Dies aufgrund eines Postulats von Severin Meier (SP), Selina Walgis (Grüne) und Tanja Maag (AL), die einen städtischen Beitrag zur Linderung der humanitären Situation in Gaza gefordert hatten. Trotz der mahnenden Worte von Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP), bei diesem Thema auf polemische und verletzende Voten zu verzichten, folgte eine einstündige Diskussion, in der der Vorwurf der Terrorunterstützung genauso wenig fehlen durfte wie der Kampfbegriff der Apartheid. Hauptstreitpunkt war die Formulierung der Postulant:innen, bei der Hilfeleistung primär die «United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East» (UNRWA) zu berücksichtigen, da diese als mit Abstand grösste Hilfsorganisation vor Ort unumgänglich sei. Der UNRWA werden Verbindungen zu der Terrororganisation Hamas nachgesagt, weswegen sie immer wieder Gegenstand von politischen Diskussionen ist. Auf den von der Mitte unterstützten Vorschlag der GLP, auf die Nennung einer Organisation ganz zu verzichten, wollten die Postulant:innen nicht eingehen. SP, Grüne und AL überwiesen mit ihrer Mehrheit am Ende den Vorstoss. Fünf GLPler:innen enthielten sich ihrer Stimme, der Rest stimmte dagegen.
- Judith Boppart (SP, hier ihr Porträt) trat gestern aus dem Rat zurück. Sie habe gewusst, dass man erst nach vier Jahren richtig drin sei in der Gemeinderatsarbeit, und doch werfe sie nach ziemlich genau dieser Zeit das Handtuch, heisst es in ihrem Abschiedsschreiben. Das tue ihr leid, insbesondere auch im Hinblick darauf, dass die SP Schwamendingen im Rat nun nur noch von Männern vertreten werde. Sie habe vor lauter Pflichtprogramm mit Kommission, Fraktion und Rat nicht mehr die Musse gefunden, sich für die ihr wichtigen Themen wie Verdrängung oder Frühförderung einzusetzen. Ratspräsident Krayenbühl wies auf ihren Einsatz für unterschiedlichste Themen hin, von feministischen Anliegen bis zur Errichtung eines «Superblocks» beim Dreispitz-Areal, der demnächst umgesetzt werden soll.
- Für die zurückgetretene Marion Schmid trat Lara Can neu in die SP-Fraktion ein. Sie war Teil von vier Juso-Spitzenkandidatinnen für die Gemeinderatswahl 2022 (hier mehr dazu). In ihrer ersten Sitzung reichte Can gestern zusammen mit Moritz Bögli (AL) eine Schriftliche Anfrage ein, in der nach dem Einsatz von OSINT-Tools (kurz für Open Source Intelligence) und dem Vorgehen bei der Identifikation von Personen durch Videoaufnahmen bei der Polizei gefragt wird. Diese stützt sich auf eine kürzlich veröffentlichte Recherche von Tsüri.ch zu dem Thema.