Frauen* im Zürcher Gemeinderat (2/2): Im Reich der Besserwisser

Junge Frauen werden in der Politik oft nicht ernst genommen, müssen sich sexistische Sprüche anhören oder erhalten gar Drohungen. Solche Erfahrungen machten auch einige Zürcher Gemeinderätinnen. Manche zogen sich aus dem Rat zurück, andere halten die Zustände nicht davon ab, sich politisch zu engagieren.

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Selina Walgis sitzt seit eineinhalb Jahren für die Grünen im Gemeinderat. Alle Fotos: Steffen Kolberg

Als im September 2020 die AL-Politikerin Ezgi Akyol als Zürcher Gemeinderätin zurücktrat, war die Aufmerksamkeit hoch. Sie empfinde nicht nur Dankbarkeit für ihre sechs Jahre im Rat, schrieb sie in ihrem Rücktrittsschreiben. Denn die Zeit sei für sie auch «schwierig, kräftezehrend und verletzend» gewesen. Akyol prangerte vorrangig Rassismus an; Herabwürdigungen aufgrund ihres türkischen Nachnamens innerhalb, Drohungen aufgrund ihrer öffentlichen Äusserungen zu Asylfragen ausserhalb des Rats. Und fehlenden Rückhalt durch andere Ratsmitglieder, nicht bloss von der rechten Seite des Saals. Der Umgang mit ihr legte nicht nur latenten und offenen Rassismus frei, er folgte auch sexistischen Grundmustern. Herabwürdigungen, Beleidigungen und Drohungen gehören für viele Frauen zum Alltag, Zürcher Gemeinderätinnen sind davon nicht ausgenommen.

Die Grüne Elena Marti, einst als jüngste Gemeinderätin Zürichs gestartet, trat zwar aus beruflichen Gründen zurück. Doch sie erwähnte auch, dass sie es «nicht ganz einfach» fand, «als junge Frau in diesen Rat zu kommen» und erinnerte in ihrem Rücktrittsschreiben daran, wie sie von Männern rechter Parteien angegangen worden war, weil sie beim Verlesen einer Erklärung des Klimastreiks zeitlich überzogen hatte. Ihre Mutmassung: Den Männern ging es nicht um Inhaltliches oder Formelles, sondern allein darum, sich zu profilieren. Bei Ezgi Akyols AL-Kollegin Christina Schiller waren laut Rücktrittsrede vor allem persönliche Gründe Anlass für ihren Rückzug aus dem Rat. Sie sprach aber auch über die Machtdemonstrationen und Eitelkeiten, die sie in ihren sieben Jahren im Rat vonseiten der männlichen Mehrheit erlebt hatte. Auf ihre Erfahrungen angesprochen, berichtet sie von sexistischen Sprüchen älterer Männer und davon, wie männliche Mitglieder mehrerer Fraktionen eine Motion, die ursprünglich von ihr kam, übernommen und als ihre eigene ausgegeben hatten. Solche Verhaltensweisen habe sie nicht nur von bürgerlichen, sondern auch von linken Männern erlebt, erzählt sie: «Die Linke hat in dieser Frage noch viel zu tun.»

Ein Mann, der in der Politik ist, hat Ansehen. Bei einer Frau denkt man dann eher, die kann mühsam sein, zu laut und unangenehm.

Selina Walgis, Grünen-Gemeinderätin

Politisch aktive Männer haben Vorteile

«Es herrscht eine Besserwisser-Kultur im Gemeinderat», meint die Grüne Selina Walgis, die seit 2020 im Gemeinderat sitzt: «Das ist eine Eigenschaft, die man im Rat gut gebrauchen kann. Doch viele können sie nicht mehr ganz abschalten.» Diese Kultur könnte auf viele Frauen eher abschreckend wirken. Walgis nimmt auch an, dass ein Mann im Vergleich zu einer Frau in der Gesellschaft und im Beruf tendenziell mehr Vorteile hat, wenn er politisch aktiv ist: «Ein Mann, der in der Politik ist, hat Ansehen. Es ist positiv, wenn er sich durchsetzen kann. Bei einer Frau denkt man dann eher, die kann mühsam sein, zu laut und unangenehm. Was zählt, sind vermeintliche Erfahrung und Status.» So sei es zum Beispiel nicht nur ein Problem, dass weniger Frauen als Männer für den Gemeinderat kandidieren. Diejenigen, die kandidieren, würden sich oft lieber auf den hinteren Plätzen aufstellen lassen, um sich nicht zu sehr zu exponieren.

Das habe auch damit zu tun, dass Frauen eher damit rechnen müssten, angefeindet zu werden, wenn sie sich öffentlich positionierten. Auch sie habe schon Drohungen aufgrund öffentlicher Äusserungen erhalten, erzählt Walgis: «Das führt dazu, dass ich mir gut überlege, ob ich mich zu bestimmten Themen in der Öffentlichkeit äussern will oder lieber nicht. Das ist eigentlich schade.» Anders als die meisten Ratsmitglieder hat Walgis auf der Website des Gemeinderats ihre Adresse nicht aufgeschaltet, weil sie sich damit nicht wohlfühlt. Darauf habe sie selbst kommen müssen, sagt sie: «Niemand hat mich darauf hingewiesen oder mich davor gewarnt, das zu machen.» Auch Christina Schiller von der AL hatte irgendwann Wohn- und Mailadresse von der Seite genommen, nachdem sie immer wieder misogyne Briefe und Mails erhalten hatte. «Schlimm war es vor einem Jahr», erzählt sie, «nachdem ich bei TeleZüri das faktische Demoverbot von Mario Fehr kritisiert hatte.» Sie schickt das Foto eines Briefs, der sie in dieser Zeit erreicht hat. Er enthält eine Aufreihung von Gewaltfantasien und schliesst mit dem Satz: «Am 1. Mai ist Faschistenfeiertag.»

Je höher der Frauenanteil, desto angenehmer die Arbeit Die Politologin Sarah Bütikofer hat im Rahmen ihrer Forschung zahlreiche Politikerinnen aus allen Parteien und Kantonen interviewt. Dabei sei ihr häufig berichtet worden, dass Politikerinnen den Eindruck hatten, von Männern nicht richtig wahrgenommen oder herablassend behandelt worden zu sein: «Auffällig war, dass Frauen die politische Arbeit angenehmer fanden, je höher der Frauenanteil in einem Gremium war. Das ging sogar bis hinauf zum Bundesrat.» Auch SP-Gemeinderätin Ursula Näf kennt das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden in männlich dominierten Runden. Das gehöre aber nicht zur Tagesordnung, sagt die 30-jährige. Und: «Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen.» Es sei wichtig, diese Kultur zu kritisieren, doch das solle keine junge Frau davon abhalten, sich zu engagieren. Ihre SP-Kollegin Lara Can stimmt ihr zu: «Wichtig ist es, sich gegenseitig zu unterstützen und zusammenzuspannen. Denn das Schlimmste ist, damit allein zu sein.»

Can gehört zu einer Gruppe von vier «Spitzenkandidatinnen», welche die Zürcher JUSO für die Gemeinderatswahlen 2022 aufgestellt hat. Mit dieser Formierung wollen sie laut Medienmitteilung «die jungen, weiblichen Stimmen der Bewegungen in den Rat tragen.» Das Zusammenspannen im Viererteam sei eine ganz bewusste Entscheidung der gegenseitigen Absicherung und Unterstützung gewesen, erklärt Nevin Hammad. Auch die Sekretärin der kantonalen JUSO gehört zu den vier Kandidatinnen. Von 18 JUSO-Kandidat:innen für die Wahlen seien elf weiblich, erläutert sie. «Die Bürgerlichen stellen dagegen im Gemeinderat zum Grossteil Männer», so Ursula Näf: «Dass es da nicht intern mehr Druck gibt, verstehe ich nicht.»

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Die «Spitzenkandidatinnen» Lara Can und Nevin Hammad der JUSO, SP-Gemeinderätin Ursula Näf

Parteiübergreifendes Netzwerk zur Unterstützung

Hammad erklärt, die JUSO sei schon dabei, etwas gegen die Ungleichheit zu tun, mit Bildungsarbeit und dem Bestärken und Ermächtigen von Frauen. Es gehe darum, sich zu vernetzen, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen, um Frauen schlussendlich zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. «Im Gemeinderat läuft vieles über die Parteien», erläutert Näf: «Und die SP ist in dieser Hinsicht gut aufgestellt.» Zudem gebe es im Gemeinderat seit ein paar Jahren die IG Frauen, die als parteiübergreifendes Netzwerk und Gremium der gegenseitigen Unterstützung diene. Auch Selina Walgis findet die Arbeit der IG Frauen wichtig. Und auch sie nimmt ihre Grüne Fraktion als unterstützend wahr, «in dem Masse, in dem es eben geht.» Sie selbst versuche, als Vorbild zu wirken und im Gemeinderat für problematische Machtstrukturen und Verhaltensweisen und deren Überwindung zu sensibilisieren, erzählt sie. So habe sie innerhalb ihrer Fraktion zum Beispiel einen Workshop mit Empathie Stadt Zürich organisiert: «Da haben wir uns unter anderem damit beschäftigt, wie wir unterstützen und reagieren können, wenn jemand diffamiert wird.»

Ich bin keine Voll-Schweizerin, so wie 60 Prozent der Zürcher Bevölkerung – deal with it!

Nevin Hammad, JUSO Zürich

Aber wie geht man mit der Gefahr um, aufgrund eines nicht-schweizerisch gelesenen Nachnamens ähnliche rassistische Diskriminierungserfahrungen machen zu müssen wie Ezgi Akyol? «Es ist mir sehr bewusst», meint Nevin Hammad: «Und es nervt. Man muss immer wieder die gleichen Diskussionen über die eigene Herkunft führen. Aber das ist völlig sinnbefreit – man darf das nicht an sich heranlassen. Umso wichtiger ist es, dafür einzustehen und zu sagen: ‹Ich bin keine Voll-Schweizerin, so wie 60 Prozent der Zürcher Bevölkerung – deal with it!›» Aus ihrer Arbeit im Sekretariat der SP Migrant:innen kann Lara Can berichten, dass eine Doppeldiskriminierung als Frau mit Migrationshintergrund oft Thema ist: «Es sind subtile Mechanismen. Ob man als Migrantin gelesen wird oder nicht, wirkt sich darauf aus, wie man eingeschätzt wird.» Ihre Eltern hätten ihr bewusst einen unverfänglichen Vornamen gegeben, damit sie im späteren Leben keinen Nachteil erfahren würde. Hammad hingegen erzählt, dass sie sich aufgrund ihres Namens häufiger Gedanken über ihr politisches Engagement gemacht habe: «Viele Menschen können meinen Namen nicht einschätzen, und ich habe mich schon kurz gefragt, wie das ankommt auf der Liste. Wie oft werde ich weggestrichen nur für das? Das ist schon ernüchternd.»

Ezgi Akyol hatte ihr Rücktrittsschreiben geschlossen mit den Worten, sie sei zuversichtlich, dass auch der Zürcher Gemeinderat eines Tages die Stadtzürcher Bevölkerung adäquat abbilden werde. «Ich wünsche mir weniger privilegierte Menschen, mehr Menschen of Color, Schwarze Menschen, jüngere Menschen, Frauen*, von Armut betroffene Menschen und Menschen mit einer Beeinträchtigung in den Parlamenten, in den Regierungen, in den Verwaltungen, in den Institutionen und in den Redaktionen», schrieb sie: «Und ich wünsche mir, dass diese Menschen dann in diesen Gefässen besser geschützt werden.»

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