Nicht kontrolliert, doch gebüsst – benutzt die Polizei Gesichtserkennungssoftware?
Wer an unbewilligten Demonstrationen teilnimmt, kann in Zürich gebüsst werden. Wie die Polizei einen Demonstranten im Nachgang identifiziert hat, lässt den Verdacht aufkommen, dass mit einer Gesichtserkennungssoftware gearbeitet wird.
«Wieso konnte mich die Polizei identifizieren?», fragt sich Leon Beyer*, als er im Juni 2022 einen Strafbefehl in seinem Briefkasten hat. 450 Franken verlangt das Zürcher Stadtrichteramt von ihm für die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration, die einige Monate zuvor stattgefunden hatte.
Demonstriert wurde gegen einen Aufmarsch von Rechtsextremen und Corona-Massnahmengegner:innen. Mehrere tausend Personen gingen an diesem Tag in Zürich unter dem Motto «Züri Nazifrei» auf die Strasse. Es kam zu Ausschreitungen. Das Polizeiaufgebot war gross, über der Innenstadt kreiste ein Helikopter, Wasserwerfer, Gummigeschoss und Reizgas kamen zum Einsatz. Knapp 30 Personen aus der rechtsextremen Szene wurden festgenommen.
Seine Teilnahme bestreitet Beyer nicht. Doch dass er aufgrund von «polizeilichen Bildaufnahmen» als Teilnehmer der Demonstration identifiziert wurde, wie es im Strafbefehl heisst, verunsichert ihn.
Zu diesem Zeitpunkt wohnte er erst seit kurzem in Zürich und war eigenen Aussagen zufolge noch nie mit der Zürcher Polizei in Kontakt gekommen. Ist also seines Wissens nicht aktenkundig. Auch gehöre er keiner Gruppierung an, welche die Polizei auf dem Schirm haben könnte. Er sei grundsätzlich «kein paranoider Mensch», so Beyer, aber er hat eine Vermutung, die ihn nicht loslässt: Die Polizei könnte ihn durch eine Gesichtserkennungssoftware identifiziert haben.
Der heute 32-Jährige bezahlt die Busse und in der Hoffnung auf Antworten beantragt er Akteneinsicht. Wenig später bekommt er ein Polizei-Dossier mit mehreren Fotos: Eines von ihm an der Demonstration – er trägt eine weisse Mütze, einen Ohrring, eine Hygienemaske unters Kinn gezogen, damit er mit seiner rechten Hand einen Lippenbalsam auftragen kann. Das Foto gleicht einem Wimmelbild, dutzende Personen sind darauf zu sehen. Auf weiteren Bildern ist nur sein vergrössertes Gesicht zu sehen.
Das einzige Foto in seinen Akten, das nicht von der Demonstration ist, stammt von seiner damaligen Arbeitgeberin; darauf trägt er dieselbe Mütze. Dass es sich dabei um die gleiche Person handelt, ist auf den ersten Blick erkennbar. Dieses Bild im Dossier ist mit einem Link versehen. Dazu ein Kommentar von der Polizei: «Bild aus dem Internet.»
Der Strafbefehl sowie Beyers Akten liegen Tsüri.ch vor.
Software identifizierte RAF-Terroristin
Wie fanden die Beamt:innen das Foto, das nicht mit der Demonstration in Verbindung steht? Eine mögliche Antwort: Die Gesichtserkennungssoftware PimEyes – eine Art Suchmaschine für Gesichter. Lädt man ein Foto einer Person hoch, spuckt sie Bilder aus, die es von der Person im Internet bereits gibt. PimEyes soll Daten von mehr als zwei Milliarden Gesichtern aus dem Internet verwenden, allerdings nicht aus sozialen Netzwerken.
Vergangenen März sorgte die Software für Schlagzeilen, weil Journalist:innen die ehemalige RAF-Terroristin Daniela Klette damit erkannt haben. Vor der Polizei hielt sich Klette 30 Jahre lang versteckt. Ein Journalist fand sie innerhalb weniger Minuten dank des Algorithmus von PimEyes.
Tsüri.ch hat das Akten-Bild von Leon Beyer an der Demonstration mit seinem Einverständnis auf PimEyes geladen: Es dauert nur wenige Sekunden, dann erscheint – neben vielen anderen Bildern von ihm – auch das Foto von seiner früheren Arbeitgeberin, das auch in den Polizeiakten zu finden ist.
Ist die Polizei auch über diese Gesichtserkennungssoftware auf das Foto gestossen?
«Ich kenne das Gerücht, dass im Kanton Zürich PimEyes eingesetzt wird.»
Martin Steiger, Anwalt und Sprecher Digitale Gesellschaft
Polizei verneint die Verwendung im Fall Beyer
«Ich kenne das Gerücht aus den Reihen der Polizei, dass im Kanton Zürich PimEyes eingesetzt wird. Ich kann aber nur spekulieren», sagt Martin Steiger, Anwalt und Sprecher der NGO Digitale Gesellschaft.
In weiteren Hintergrundgesprächen mit Expert:innen aus den Bereichen Datenschutz und Recht wurde der Verdacht, dass die Polizei diese Software nutzt, erhärtet. Doch der handfeste Beweis fehlt.
Der ehemalige Polizeichef Richard Wolff sagt, dass bei der Stadtpolizei Zürich durchaus über Gesichtserkennung im öffentlichen Raum gesprochen wurde. Doch aufgrund der gesetzlichen Lage und der fehlenden politischen Unterstützung kam ein Einsatz nicht infrage. Aber: «Man kann nicht ausschliessen, dass einzelne Polizist:innen – wie andere Leute auch – solche Tools für sich, also privat, ausprobieren. Sie sind ja frei verfügbar.»
Auf Anfrage zum spezifischen Fall von Leon Beyer heisst es bei der Stadtpolizei: Ein ermittelnder Polizist, der sich die Fotos der Demo ansah, erkannte darauf eine Person, die mit Foto und Namen auf Tsüri.ch abgebildet war. Der Polizist sei kurz zuvor als Leser auf der Seite gewesen und konnte deshalb Beyer identifizieren. Die Verwendung von Gesichtserkennungssoftware verneint die Polizei in diesem Fall.
«Wir haben Leute, die sich Gesichter gut merken können.»
Stadtpolizei Zürich
Anzumerken ist, dass Leon Beyer zu diesem Zeitpunkt seit 1,5 Jahren bei Tsüri.ch gearbeitet hat. Er war nicht als Journalist tätig, sondern arbeitete im Hintergrund. Sein Gesicht war online wenig präsent, lediglich auf der Teamseite. Die Polizei meint darauf, dass eine solche Identifikation nicht ungewöhnlich sei, «wir haben Leute, die sich Gesichter gut merken können».
Für Rechtsanwalt Martin Steiger deuten die Akten sowie die Aussagen der Polizei daraufhin, dass es sich womöglich um einen Fall von «Parallel Construction» handelt. Das heisst, die Polizei ermittelt auf einem Weg, den sie aber nicht offenlegen möchte, weil dieser sich im verbotenen Bereich befindet, stattdessen zeige sie einen anderen Weg auf. Die Beweiskette wird – wenn überhaupt – häufig erst vor Gericht ein Thema, also wenn sie infrage gestellt wird.
Rechtliche Grundlagen fehlen
In der Schweiz gibt es aktuell keine rechtliche Grundlage, die den Einsatz solcher Softwares wie PimEyes für Behörden erlaubt.
Obwohl PimEyes optisch spielerisch daherkommt, ist die Software hochproblematisch: Die Menschen, deren Fotos gespeichert werden, werden nicht um Einverständnis gefragt. Sie sind ohne ihr Wissen in dieser Datenbank gelandet und es lässt sich fast jede Person identifizieren, von der ein Foto im Internet existiert.
«Es handelt sich um eine Form der Massenüberwachung», sagt Steiger und erklärt: «Die Anbieter solcher Software grasen das Internet nach Bildern ab und machen alle Personen, die auf Bildern zu sehen sind, ohne Anlass und Verdacht zu Verdächtigen.» Der rechtskonforme Einsatz solcher Software durch Behörden wäre aus seiner Sicht in jedem Fall rechtsstaatlich fragwürdig.
Nicht nur Steiger kritisiert die Nutzung von PimEyes, auch die Strafrechtsprofessorin Monika Simmler äussert Bedenken: «Biometrische Erkennung ist ein schwerer Grundrechtseingriff, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Die gibt es in der Schweiz nicht.» Im Falle von PimEyes komme erschwerend hinzu, dass es sich um einen ausländischen Anbieter handelt. Das Unternehmen hat seinen Sitz im mittelamerikanischen Karibikstaat Belize.
Keinen Einblick in Ermittlungstaktiken
Abwegig wäre es nicht, wenn in Zürich ähnliche Systeme wie PimEyes zum Einsatz kommen. Andere Kantone nutzen Gesichtserkennungssoftware bereits. Zum Beispiel die Kantonspolizei St. Gallen, die bei der Fahndung nach Straftäter:innen seit 2021 auf die Unterstützung der schwedischen Firma Griffeye zurückgreift, wie aus Recherchen der NZZ hervorgeht. Zudem drängen diverse Schweizer Polizeikorps darauf, solche Softwares einzuführen.
Auch der Cybercrime-Chef der Kantonspolizei Zürich setzt sich öffentlich dafür ein – für ein Hintergrundgespräch zum Thema digitale Fahndungsmethoden war er jedoch nicht verfügbar. Auch die Stadtpolizei Zürich winkt ab. Ebenfalls scheiterte der Versuch, per Öffentlichkeitsgesetz an mehr Informationen zu kommen.
Jede Person darf laut dem kantonalen Gesetz über die Information und den Datenschutz (IDG) ein solches Gesuch einreichen. Grundsätzlich können dabei alle Informationen, die bei der Stadt Zürich vorhanden sind, verlangt werden.
Im Gesuch wurde von der Polizei unter anderem eine Liste mit Open-Source-Intelligence-Tools (OSINT), welche von der Stadtpolizei verwendet werden oder interne Leitfäden, wo der Umgang mit Gesichtserkennungs-/Gesichtsabgleich-Tools festgehalten wird, verlangt. Sowie Protokolle von Sitzungen, wo es um Gesichtserkennungstools geht, um zu verstehen, wie diese Thematik intern diskutiert wird.
«Mit dieser Zurückhaltung versucht die Polizei eine öffentliche Diskussion zu verhindern.»
Martin Stoll, Geschäftsführer Öffentlichkeitsgesetz.ch
Die Stadtpolizei Zürich verwendet keine Software, welche Bildaufnahmen mit bestehenden Datenbanken automatisch abgleicht, heisst es in der Antwort der Polizei Anfang Juni. Es werden aber mehrere OSINT-Tools durch Spezialist:innen der Fachgruppe Cybercrime eingesetzt. Doch Einblick in die Dokumente gewährte die Polizei trotz gesetzlich verankertem Öffentlichkeitsprinzip nicht: Aus «polizeitaktischen Gründen», werde auf eine detaillierte Auflistung verzichtet.
Es bleibt also unklar, ob und welche Tools von Zürcher Polizist:innen verwendet werden oder nicht.
«Mit dieser Zurückhaltung versucht die Polizei wohl eine öffentliche Diskussion zu verhindern – sie will sich dieser nicht stellen», sagt Martin Stoll, Geschäftsführer des Vereins Öffentlichkeitsgesetz.ch. Die Stadtpolizei nehme es mit der Umsetzung des IDGs nicht sehr genau und wimmle das Gesuch sehr leichtfüssig ab, kritisiert der Investigativjournalist.
Die Nutzung von Gesichtserkennungs- und OSINT-Tools könne in gewissen Fällen durchaus gerechtfertigt sein und Sinn ergeben, doch der Einsatz müsse demokratisch legitimiert sein. Wie weit die Gesellschaft bei Gesichtserkennung und ähnlichen Technologien zur Bekämpfung von Straftaten gehen will, müsse politisch ausgehandelt werden, findet Stoll.
Nicht nachvollziehbar, wie ermittelt wurde
Dass bei Leon Beyer lediglich die beiden Fotos zu einer Identifikation geführt haben, erstaunt die Strafrechtlerin Simmler. Aufgrund der Informationen in den Akten liesse sich nicht nachweisen, wie die Polizei zu diesem Schluss kam. Dabei wäre sie laut Strafprozessordnung dazu verpflichtet. Demzufolge sind alle Verfahrenshandlungen, die nicht schriftlich durchgeführt werden, zu protokollieren. Nur so können in einem Verfahren Beweise infrage gestellt werden.
«Das macht das Vorgehen verdächtig.»
Monika Simmler, Strafrechtsprofessorin
Heisst, es hätte in den Akten stehen müssen, wie Beyer von einem Polizisten erkannt worden ist und wie dieser die Brücke zwischen der Aufnahme an der Demonstration und der Webseite der Arbeitgeberin schlug. «Es ist im vorliegenden Fall unklar, von welchen Anhaltspunkten her auf das Bild geschlossen werden konnte. Das macht das Vorgehen verdächtig», sagt Simmler.
Auf Nachfrage, weshalb im Fall von Leon Beyer nicht alles protokolliert wurde, heisst es beim Stadtrichteramt: «Im vorliegenden Fall erschien dem Stadtrichteramt der von der Stadtpolizei rapportierte Sachverhalt inklusive der Identität der beschuldigten Person geklärt.» Der Strafbefehl wurde der beschuldigten Person mit dem Hinweis auf die zehntägige Einsprachefrist zugestellt. Beyer habe keine Einsprache erhoben, womit er den Sachverhalt akzeptiert habe und der Strafbefehl rechtskräftig sei.
Doch wie das Foto aus dem Internet den Weg in die Akten gefunden habe, werfe Fragen auf, so der Luzerner Rechtsanwalt Markus Husmann: Nur weil im Internet recherchiert werden könne und Applikationen wie PimEyes frei zugänglich seien, sei deren Einsatz nicht auch rechtmässig. Bei jeder Suchabfrage würden Daten ins Netz eingespiesen.
Entscheidend sei daher die Ausgestaltung der Datenverarbeitungsprozesse und die Art der betroffenen Daten. «Betrifft eine Suche besonders schützenswerte Personendaten, etwa biometrische Daten bei einer Bildsuche, ist diese mangels rechtlicher Grundlage verfassungswidrig», sagt Husmann.
Mache dies die Polizei trotzdem, sei das laut Husmann einerseits ein unzulässiger Grundrechtseingriff in die informelle Selbstbestimmung, also das Recht des Individuums, grundsätzlich selbst über die Verwendung seiner Daten zu bestimmen. Andererseits könne eine Internetrecherche auch eine Verletzung des Amtsgeheimnisses sein – wenn Polizeibeamte interne und geheime Daten ins Netz einspeise und so Dritten offenbaren.
Dass Rechtsanwält:innen Skepsis äussern, scheint die Stadtpolizei nicht zu beunruhigen. Man halte sich an die Gesetze und die Stadtpolizei verweist auf einen Artikel mit dem Namen «Strafbehörden dürfen googeln».
Ob es tatsächlich an dem Erinnerungsvermögen eines Polizisten gelegen hat, der das Bild von Leon Beyer wiedererkannt hatte, bleibt indes unklar. Was bedeutet das für ihn? «Dass mein Fall auch unter Fachpersonen diverse Fragen aufwirft, beruhigt mich, da es mir zeigt, dass meine Bedenken nicht übertrieben waren», sagt er. Seither ist er weniger an Demonstrationen anzutreffen. «Die polizeiliche Repression hat wohl ihren Zweck erfüllt.»
*Name der Redaktion bekannt.
Tsüri.ch hat für die Recherche das Öffentlichkeitsgesuch gemeinsam mit SRF Investigativ eingereicht.
Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.
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