Winterrede Fany Flores: «Ich habe 11 Schweizer Enkelkinder. Nicht durch Blut, sondern durch Liebe»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 15. bis 26. Januar 2024 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Fany Flores
Guten Tag, meine Damen und Herren. Danke, dass Sie hier sind, ich freue mich, mein Lebenszeugnis mit Ihnen zu teilen.
Mein Name ist Fany Flores und ich komme aus der Stadt La Paz in Bolivien.
Diese Rede soll Sie nicht traurig machen, im Gegenteil, sie soll Ihnen Mut machen, Mut und Empathie für alle Menschen in der Illegalität.
Ich kam am 12. Dezember 2002 als Touristin in die Schweiz.
Wenn ich mich an die traurigsten und schwierigsten Momente meines Lebens erinnere, ist es, als ob ich nicht mehr atmen könnte, der Schmerz, den ich empfinde, lässt sich nicht erklären. Mir ist klar, dass ich es nicht überwunden habe.
Heute bin ich genau 21 Jahre, 1 Monat und 14 Tage hier!
Der Grund, warum ich hier bin, war die Notwendigkeit, als Mutter mein Leben zu retten und eine bessere Zukunft für meine vier Kinder zu suchen.
Das älteste war 20 Jahre alt, das zweite Kind war 14, das dritte 11 und das jüngste 9 Jahre alt. Sie waren sehr traurig, als ich ihnen mitteilte, dass ich mich entschlossen hatte, wegzugehen, und sie waren ein wenig verwirrt. Wir weinten, umarmten uns und sie sagten: «Wir versprechen, dass wir brav sein und lernen werden.» Das jüngste meiner Kinder fragte: «Kommst du zurück? Ich liebe dich, Mama». Es fiel mir sehr schwer, ihre traurigen kleinen Gesichter zu sehen. Ich fragte mich, ob ich das Richtige tue, ob Kinder es verdienen, für ihre Eltern zu leiden.
Mein Ältester war sich der Situation durchaus bewusst, er ermutigte mich und sagte: «Mutter, es wird alles gut werden! Mein Vater hat Alkoholprobleme». Er musste ihn mehrere Male zur Rede stellen, um mich zu verteidigen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, ich erlitt körperliche Gewalt, so sehr, dass ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ich habe meine Mutter und eine Schwester gebeten, sich um das Haus zu kümmern und alles zu organisieren. Sie sollten meine Kinder zur Schule schicken und sich um sie kümmern. Was mich am meisten traurig machte, war, dass ich einem 20-jährigen Jungen die grosse Verantwortung überlassen musste, Mutter und Vater zu sein. Mein Sohn sagte immer: «Sei nicht traurig, Mama, alles wird gut, nimm es leicht, tu es für uns, du schaffst das, mach dir keine Sorgen, wir kommen schon klar».
Meine Kinder haben mich immer arbeiten sehen, seit sie denken können, ich bin es gewohnt zu arbeiten und ich mag es! Ich hatte eine Bäckerei und Konditorei, ich organisierte wichtige Ereignisse, Geburtstage, Hochzeiten, Panettone für verschiedene Organisationen am Ende des Jahres usw.
11. Dezember 2002
Das war der traurigste Tag meines Lebens, denn ich musste meine geliebten Kinder verlassen, es war eine ewige Umarmung des Abschieds. Wir konnten uns nicht trennen, wir haben viel geweint, mein 9-jähriger Sohn gab mir etwas in die Hand und sagte: «Mamita, das wird dir Glück bringen». Es war ein kleiner Stein in Form eines Herzens. Seitdem ist er mein Amulett, und wenn ich traurig bin, halte ich ihn dicht an mein Herz. Ich habe ihn auch jetzt bei mir.
In einem Land anzukommen, ohne etwas darüber zu wissen, ist wirklich sehr beunruhigend. Das Klima, die Kultur, der Winter – alles ist anders. Damals hatte ich nicht die richtige Kleidung, die Kälte machte mir Haut- und Kopfschmerzen. Ich musste mich einfach damit abfinden. Ich kam mit viel Hoffnung, zu arbeiten und dass es meinen Kindern gut ergeht.
Ich kam am 12. Dezember 2002 auf dem Flughafen Kloten an. Ich weiss nicht mehr, wie spät es war und ob es Tag oder Nacht war. Ich sah, dass alles grau und bewölkt war. Als ich mich dem Ankunftsgate näherte, sah ich eine Person mit einem Schild, auf dem mein Name stand, es war der Fahrer des Hotels, in dem ich drei Tage lang wohnen sollte.
Ich telefonierte einer Bekannten von einer Kundin meiner Bäckerei in meiner Stadt. Die Familie dieser Frau lebte schon seit vielen Jahren hier. Wir vereinbarten, dass sie mich vom Hotel abholen und mir ein paar Tage lang helfen würde. Ich blieb vier Monate bei ihr und bekam keinen Job, weil sie mir sagte, ich solle die Türen nicht öffnen, wenn sie nicht da sei, nicht ans Telefon gehen, nicht aus dem Fenster schauen, kurzum, ich solle mit niemandem Kontakt haben. Sie gab mir das Gefühl, dass ich sie in Gefahr bringe, da sie von der Polizei kontrolliert werden könnte. Wenn wir Lebensmittel einkaufen gingen, musste ich hinter ihr gehen, sie sagte mir, dass ich vorbeigehen solle, wenn sie jemanden grüsse. Schliesslich wurde ich ihre Angestellte.
Die Monate vergingen, und ich fand keinen Ausweg, bis diese Frau eines Tages Besuch von einer bolivianischen Familie mit drei Kindern und ihren Eltern bekam. Die Mutter, Delia, fragte mich, wer ich sei. Die Frau antwortete, dass ich Arbeit suche und dass ich illegal sei, und fügte hinzu, dass sie Angst habe und niemanden finden könne, der mir Arbeit gebe. Delia sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen, ich sei nicht die Einzige. «Meine ganze Familie und ich sind auch illegal. Meine drei Kinder sind hier geboren, wir haben keine Chance auf eine Legalisierung, aber wir verlieren nicht den Glauben. Es ist wichtig, dass man weiss, was man will. Ich werde dir beibringen, wie man arbeitet. Du bist eine Mutter wie ich, ich werde dir helfen. Ich werde am Montag um 6 Uhr morgens kommen und am Eingang auf dich warten. Wir befinden uns in einer roten Zone.» Ich verstand nicht, was sie meinte, und fragte, was das sei. Sie antwortete, dass dieser Ort Langstrasse heisst und dass es dort viele Kontrollen gibt.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, ich war um 5.30 Uhr am Tor. Delia kaufte mein Ticket. Wir kamen bei zwei Häusern an, sie zeigte mir die Reinigungsmittel und wie sie arbeiten musste, sie sagte mir, ich solle mir immer die Zeichnungen ansehen. Wir arbeiteten etwa 10 oder 11 Stunden und sie zahlte mir die Hälfte. Ich sagte zu ihr: «Aber du bist mich am Einführen». Sie erwiderte, dass das gerecht sei. Sie bekam 20 Franken für eine Stunde. Von diesem Moment an wurde Delia mein Engel und mein Führer in allem. Sie kümmerte sich um mich.
Ich werde diese Familie nie vergessen. Sie wurden vier Jahre nach meiner Ankunft deportiert. Ich habe sehr gelitten, weil ich sie als Familie betrachtete und die Kinder mich als Teil der Familie sahen.
Menschen ohne legalen Status sind die verletzlichsten Menschen, die es geben kann, sie leiden unter anonymen Denunziationen, Raubüberfällen, Vergewaltigungen, Betrügereien. In vielen Fällen zahlen Arbeitgeber ihren Lohn nicht, sie werden bedroht, denunziert und abgeschoben. Es gibt viele Menschen, die sich der Illegalität bemächtigen und sie ausnutzen.
Wohin soll ich mich wenden und diese Ungerechtigkeiten melden? Es handelt sich um schwerwiegende Ungerechtigkeiten, die aufgrund von Angst Traumata hinterlassen. Wir wissen, dass es niemanden gibt, an den wir uns wenden können. Ich habe diese Schrecken am eigenen Leib erfahren, und ich habe sie in Familien mit Kindern hautnah miterlebt. Es ist schwer zu erklären, wie es sich anfühlt, die Hilflosigkeit, die Wut, die Einsamkeit und die Angst im Alltag eines Illegalen.
Von meinen 10 Jahren in der Illegalität kann ich nur sagen, dass ich ein wenig Glück hatte, denn ich arbeitete mit Schweizer Familien, die mich akzeptierten und mir die Möglichkeit gaben, in ihr Haus zu kommen. Ich habe ihr Vertrauen und ihre Zuneigung gewonnen, so dass ich Ihnen sagen kann, dass ich 11 Schweizer Enkelkinder habe. Nicht durch Blut, sondern durch Liebe. Sie waren der Trost für das Fehlen meiner Kinder. Sie wussten nicht, dass eine Umarmung von ihnen wie eine Umarmung meiner Kinder war.
Dank den Schweizer Familien, dank den Kindern, die mich zum Lachen brachten, die, ohne es zu merken, meine Therapie der Liebe waren. Jetzt kann ich sagen, dass ich glücklich bin und dass meine 4 Kinder einen Studienabschluss haben und gute Menschen sind.
Als ich Delia kennenlernte, erzählte sie mir von der Mision Catolica de Lengua Española, in der Pater Angel Sanz, Claretianer und viele andere Menschen tätig waren.
Wir gingen zu einem Treffen, und der Priester empfing mich und hiess mich willkommen. «Fany, du brauchst keine Angst zu haben», sagte er zu mir. Wir gingen nach oben, wo es viele Bücher und Menschen gab. Der Pater begrüsste mich und sagte: «Hier ist deine neue Kollegin, sie heisst Fany.» Dort traf ich mehrere Frauen verschiedener Nationalitäten aus Lateinamerika. Jede von ihnen stellte sich vor, dann war ich an der Reihe. Wir sagten unseren Namen, unsere Nationalität und den Grund, warum wir in der Schweiz sind. Am Ende haben wir alle geweint und uns umarmt. Wir mussten uns einfach damit abfinden. Wir hatten alle etwas gemeinsam: Wir waren ohne Papiere. Es waren Frauen unterschiedlichen Alters. Wir waren 5 ältere Frauen, insgesamt 30 Aktivistinnen, und wir hatten die Unterstützung von 11 Schweizern, die uns bei der Kontaktaufnahme mit anderen Kollektiven in verschiedenen Städten halfen. So entstand unser geliebtes «Colectivo», das am 26. April 2003 ins Leben gerufen wurde. Ich, als eine der Gründerinnen, unterstütze meine Kolleginnen weiterhin.
SPAZ Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich
Das ist sehr wichtig für alle Menschen ohne Papiere.
Dank dieser Stelle, die von unserer lieben und geschätzten Bea Schwager geleitet wird, ist es Realität geworden, dass Kinder ohne Papiere zur Schule gehen können, dass sie freien Zugang zu medizinischen Einrichtungen haben, dass Härtefallgesuche gemeldet werden können. Das Ziel der SPAZ ist, dass alle Menschen eine Bewilligung erhalten und dass die Schweizer Migrationspolitik die reale Situation der Menschen ohne Papiere berücksichtigt und mit pragmatischen Lösungen statt mit Repression und Gesetzesänderungen reagiert.
Wir blicken nun wachsam und optimistisch auf die Realisierung der Züri City Card.
2. Mai 2012, Zürich
Das ist ein sehr wichtiger Tag für mich und für meine Kinder.
Es ist der Tag, an dem ich geheiratet habe. Nun bin ich seit 11 Jahren mit einem herzensguten Menschen verheiratet. Ich habe ihn in der Migrationsbewegung und bei der Unterstützung von Menschen ohne Papiere kennengelernt. Er ist ein engagierter Politiker.
Dank unserer Ehe konnte ich eine Aufenthalts-Genehmigung erhalten, die Bewilligung.
Und das gibt mir die Möglichkeit, Ihnen gegenüberzutreten und zu sagen, dass ich eine ehemalige Sans-Papiers bin.
Ich bin legal, ich hatte die Möglichkeit, 10 Jahre lang in einer Klinik zu arbeiten. Ein Dach über dem Kopf zu haben, durchzuatmen und zu sagen, hier bin ich und hier bleibe ich.
Ich bin seit zwei Jahren Rentnerin, mein Einkommen beträgt 480 Franken, weil ich seit der Legalisierung Beiträge geleistet habe. Ich habe nicht einmal genug, um die Krankenkasse zu bezahlen. Ich arbeite noch und habe noch etwas Zeit! Ich habe beschlossen, Deutsch zu lernen, damit ich den Schweizer Pass beantragen kann. Ich will ihn nutzen, um zu wählen und auch an der Politik teilzunehmen. KEIN MENSCH IST ILLEGAL!
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