Winterrede Katharina Di Martino: «Armut reproduziert sich – über Generationen hinweg» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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22. Januar 2024 um 13:00

Winterrede Katharina Di Martino: «Armut reproduziert sich – über Generationen hinweg»

Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 15. bis 26. Januar 2024 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Katharina Di Martino hält ihre Rede. (Foto: Alexandra Li)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Katharina Di Martino

Eigentlich hätte man sich bewerben müssen, für diese Winterrede. Ich habe es nicht getan. Ich wurde angefragt. Ich wurde angefragt, weil sich niemand für dieses Redefenster beworben hatte.

Und das wundert mich nicht.

Ich bin nämlich hier, um die Kategorie der ledigen Eltern mit einem oder mehreren Kindern zu vertreten. Diejenigen unter uns, die wohl viel zu sagen hätten. Warum hat sich niemand beworben?

Zeitarmut? Aufmerksamkeitsökonomie? Aus Respekt davor, sich mit Worten zu exponieren?

Ich jedenfalls hätte mich auch nicht direkt beworben. Als alleinstehende Mutter und Studentin hätte ich den Gedanken daran, mich für eine Winterrede zu bewerben, unter Berücksichtigung der mir zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen ziemlich schnell verworfen.

Ja, du häsch ja Chind wele!

Gegenfrage: Ist es denn nicht wünschenswert, dass Kinder mit Personen zusammenleben dürfen, von denen sie auch gewollt sind? Aber um auf diesen unüberlegten Ausspruch, der mir immer mal wieder etwas hämisch entgegenfliegt, gebührend zu antworten:

Ja, ich wollte Kinder. Das war meine Entscheidung. Was ich jedoch nicht entschied oder zumindest anfänglich nicht vollumfänglich zu realisieren vermochte, war, dass ich mit meiner Entscheidung für das Kind gleichzeitig der Freiheit darüber beraubt wurde, ganz viele zukünftige Entscheidungen eigenmächtig treffen zu können. Die Entscheidung darüber, wie lange ich mein Kind stillen möchte. Oder ob ich mein Kind fremdbetreuen lassen möchte oder nicht. Ob und wie lange ich mich nach der Geburt erholen kann. Zu welchen Konditionen ich nach der sog. «Babypause» wieder in den Studentenalltag zurückkehren werde. Alle diese Entscheidungen wurden mir abgenommen, waren für mich bereits gefällt worden.

Du häsch ja gwüsst, uf wasd’ dich ilasch!

Noch so eine kluge Aussage, die sich direkt selbst diskreditiert. Und noch so eine ehrliche Antwort meinerseits mit Spoilerwarnung: Bevor du das nicht selbst erlebt hast, weisst du wirklich nicht, auf was du dich da konkret einlässt. Was du z.B. auch nicht antizipieren kannst, ist die Erkenntnis darüber, wie zynisch Begriffe wie VaterschaftsURLAUB, MutterschaftsURLAUB und BabyPAUSE eigentlich klingen.

Oder aber, dass dieser Schlafmangel, der dir von allen Seiten her prophezeit wurde, in seiner Persistenz und Intensität einfach noch viel heftiger einschenkt, als du das jemals für möglich gehalten hättest.

Je nach deinem sozioökonomischen Background wirst du dann auch feststellen müssen, dass das Kinderhaben ein reales Armutsrisiko darstellt. Dass das kein überspitztes Lamento, sondern empirisch evident ist. Und dass die Armutsgefährdung in einigen Fällen unausweichlich ist.

(Foto: Alexandra Li)

Dieses Risiko, das über einigen von uns, die sich für Kinder entschieden haben, wie ein Damoklesschwert schwebt, schlägt sich auch in den Zahlen nieder, die das das Bundesamt für Statistik (BFS) jährlich präsentiert. Daraus geht hervor, dass Kinder und Jugendliche unter allen Altersklassen nachweislich das höchste Armutsrisiko verzeichnen. Wie kommt es dazu?

Betrachtet man die Kennzahlen der Sozialhilfestatistik, die das BFS für das Jahr 2022 ausweist, wird augenscheinlich, dass unter den Mehrpersonenhaushalten diejenigen mit betreuungspflichtigen Kindern überdurchschnittlich oft auf wirtschaftliche Sozialhilfe angewiesen sind. Betreuungspflichtig heisst, dass hier Betreuungsbedarf besteht, der gedeckt werden MUSS. Nun stellt sich die Frage, wer für diesen Aufwand, der sowohl zeitliche als auch finanzielle Ressourcen beansprucht, und dessen Ertrag uns allen zugutekommt, aufkommt. In der Schweiz wird die Verantwortung über die Kinderbetreuung noch immer sehr stark ins Private delegiert. Das elterliche Individuum hat gemeinhin diesen Aufwand zu leisten. Tut es dies selbst, so muss es beträchtliche Einbussen im Haushaltsbudget hinnehmen, da während der Betreuungszeit keiner Erwerbsarbeit nachgegangen werden kann. Ausserdem wird es für diesen Betreuungsaufwand keine gesellschaftliche Anerkennung erhalten, kann die dafür investierte Zeit nicht gewinnbringend dem beruflichen Werdegang anfügen, was im besten Fall zu einer Lücke, im schlechtesten Fall zu einer Zäsur im Lebenslauf führt. Und als wäre das nicht schon genug, so muss es auch noch Einbussen in der Altersvorsorgefinanzierung hinnehmen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die Mutter diejenige, die davon betroffen ist.

Entscheidet sich das elterliche Individuum nun dafür, einen Teil der Betreuungsarbeit auszulagern, stellt es zuweilen fest, dass dies unter Umständen gar keine Entscheidung ist. Die Fremdbetreuungskosten in der Schweiz sind extrem hoch. Und das ist gut so, schliesslich soll diese für unsere Gesellschaft fundamental wichtige Arbeit auch entsprechend entlöhnt werden.

Könnte man meinen. Die Realität sieht aber leider anders aus. Für die Schweiz muss hier konstatiert werden, dass, egal wer die Betreuungsarbeit leistet, diese entweder gar nicht oder aber relativ schlecht entlöhnt wird. Und genau da liegt der Hund begraben.

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So unerlässlich Betreuungsarbeit für eine funktionierende Gesellschaft auch ist, so unerlässlich sind ebenso die Kosten, die sie mit sich bringt. Kosten, an denen sich der Staat kurz- und mittelfristig minimal beteiligt, jedoch aber langfristig satte Erträge im Sinne von Arbeitskräften, potenziell starken Steuerzahlern und AHV-Finanziers einstreicht. Nur um mal die messbaren Erträge zu nennen. Hier stellt sich dann schon die Frage, wer von wem profitiert. Nicht nur der Staat als Institution, auch die Gesellschaft als Ganzes profitiert ungemein davon, dass einige von uns Kinder grossziehen oder sich daran beteiligen. Wenn wir drüber debattieren, was wir in unserer Gesellschaft verändern wollen oder nicht, dann entfalten diese Bemühungen doch nur da ihre Sinnhaftigkeit, wo auch eine Zukunft erwartet werden kann. Derweil reden wir über die Zukunft, ohne zu realisieren, dass sie schon da ist. Es sind die Kinder unter uns. Sie SIND die Zukunft. Wir täten also gut daran, mehr in unsere Zukunft zu investieren. Sie wird uns unweigerlich einholen. Irgendwann.

Ich höre auch immer wieder die Behauptung, Kinder zu haben sei egoistisch. Es sei gar asozial, Kinder in der heutigen, krisengebeutelten Zeit in die Welt zu setzen. Kinder grosszuziehen ist nicht asozial, sondern maximal sozial. Wir Menschen brauchen das Miteinander, wir sind soziale Wesen. Kooperation ist unsere Stärke. Wir sind darauf angewiesen, dass neue Generationen nachkommen, die mit uns an einer gemeinsamen Zukunft arbeiten. Wir brauchen Menschen, die sich um uns kümmern, wenn wir beeinträchtigt sind, wir Kind sind, krank werden, alt und gebrechlich. Zwischenmenschliche Kernkompetenzen werden in einer Zeit, in der immer mehr repetitive und berechenbare Arbeitsschritte unter dem Einsatz von künstlicher Intelligenz wegrationalisierbar sind, vermutlich zunehmend gewichtiger. Und gerade im Hinblick auf den Umgang mit den Herausforderungen des Klimawandels sehe ich eine vielversprechende Chance in den jüngeren Generationen, die nachrücken.

Um die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der sich einiges idealerweise zum Besseren entwickeln kann, müssen wir sicherstellen, dass wir die strukturellen Schwachstellen unserer Gegenwartsgesellschaft erkennen und deren Ursachen eruieren können. Das setzt jedoch voraus, dass wir uns ein gewisses Mass an geistiger Flexibilität bewahren, uns von festgefahrenen Vorstellungen loslösen, so dass neue Lösungsansätze für komplexe Probleme gedacht und erarbeitet werden können.

Vorurteile sind hierbei äusserst kontraproduktiv, da sie den Dialog vereiteln und eigentlich nur dazu dienen, etwas pauschal zu determinieren, das gar nicht erst reflektiert und entsprechend angegangen werden muss. Gerade bei sozial schwachen Personengruppen oder Menschen, die wir empathisch nicht fassen können, neigen wir dazu, zu klassifizieren und zu stigmatisieren.

Der Bezug von wirtschaftlicher Sozialhilfe ist nach wie vor stark stigmatisiert und tabuisiert. Das führt dazu, dass einige Menschen trotz Anspruchsberechtigung keine wirtschaftliche Sozialhilfe beantragen, weil sie sich dieser Stigmatisierung nicht aussetzen möchten. Weil sie sich dafür schämen, sich als armutsbetroffen zu outen. Weil sie sich schämen, arm zu sein. Und das macht mich wahnsinnig wütend.


(Foto: Alexandra Li)

Ich schäme mich nicht dafür, dass ich wirtschaftliche Sozialhilfe beziehe. Und ich schäme mich auch nicht dafür, darüber zu sprechen. Warum sollte ich? Ich weiss nämlich, dass es nicht allein eine Frage des Willens, der Begabung und schon gar nicht eine des Eigenengagements ist, ob jemand wirtschaftliche Sozialhilfe beziehen muss oder nicht.

Es ist eine Frage des Alters.

Ob man noch genug jung ist, um auf dem Arbeitsmarkt auf eine sichere Anstellung hoffen zu dürfen. Oder ob man noch zu jung ist, um selbst arbeiten zu können, so dass sich die eigene finanzielle Situation unweigerlich nach derjenigen der Eltern richtet. Und entsprechend auch die Entwicklungsmöglichkeiten.

Es ist auch eine Frage der eigenen Gesundheit.

Physisch oder psychisch. Genetisch oder umweltbedingt. Ob man von der IV als «genügend krank» eingestuft wird. Oder nicht. Oder ob man noch auf den definitiven Bescheid warten muss.

Es ist eine Frage der Familienkonstellation.

Ob man Kinder hat, die man betreuen und versorgen muss. Ob man dabei von jemandem unterstützt wird. Oder ob man das alles allein tut.

Und es ist vor allem eine Frage des Zufalls.

In welchem Land man geboren wurde. Ob man in die «richtige» Familie hineingeboren wurde. Ob man überhaupt Familie hat. Ob man eine behütete Kindheit erleben durfte. Ob man während dem Prozess der Adoleszenz adäquat begleitet und unterstützt wurde. Oder eben nicht.

Armut reproduziert sich. Über Generationen hinweg.

Und ein Establishment, das nach einer internalisierten neoliberal-kapitalistischen Denke handelt, sorgt auch dafür, dass das so bleibt. Wer in der Schweiz wirtschaftliche Sozialhilfe bezieht, der konsumiert öffentliche Gelder. Diese Staatsausgaben werden im Sinne der «sozialen Wohlfahrt» getätigt, was im Wortlaut weitaus wohlwollender klingt als es, in Wirklichkeit umgesetzt, tatsächlich bedeutet. Wer nämlich wirtschaftliche Sozialhilfe bezieht, der leiht dieses Geld bloss aus und verschuldet sich dadurch gegenüber dem Staat. Es besteht folglich eine Rückerstattungspflicht. Generell gilt der Grundsatz, dass eine Rückerstattungsplicht gilt, sobald die ehemals unterstütze Person in «finanziell günstige Verhältnisse» gelangt. Die Definition dessen, was «finanziell günstige Verhältnisse» konkret meint, ist dann Auslegungssache des jeweiligen Kantons. Im Kanton Zürich greift die Rückerstattungspflicht bei einer Erbschaft, einem Lotteriegewinn oder anderwärtig unerwarteten Einnahmequellen, die nicht auf eigene Arbeitsleistung zurückzuführen sind. Immerhin muss dem Schuldner dabei ein «angemessener Betrag» belassen werden. Dieser beläuft sich bei Einzelpersonen auf CHF 30'000.--.

Was bedeutet «angemessen»? Woran wird gemessen?

Das durchschnittlich vererbte Vermögen hierzulande kann nur geschätzt werden, da die allermeisten Kantone keine Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen erheben. Diese Schätzungen gehen davon aus, dass das aktuelle Erb- und Schenkungsvolumen in der Schweiz 90 Milliarden beträgt. Und obwohl das Schweizer Erbrecht unlängst revidiert wurde, so vermag doch nichts darüber hinwegzutäuschen, dass Vermögen grösstenteils innerhalb der eigenen Familie zirkuliert. Daraus resultiert, dass Erbschaften die ungleiche Vermögungsverteilung in der Schweiz signifikant verschärfen.

Wohlstand bleibt unter sich. Über Generationen hinweg. Unverschuldet.

Es gilt als angemessen, dass ehemalige Sozialhilfebezüger:innen die öffentlichen Gelder, die sie aufgrund unglücklicher Verhältnisse beziehen mussten, während sie oftmals übrigens zeitgleich arbeitstätig waren, selbstverständlich zurückzuerstatten haben, sobald sie dazu in der Lage sind.

Diejenigen jedoch, die von der Armutsgefährdung zeitlebens verschont bleiben, da sie tendenziell aus nichtarmutsbetroffenen Haushalten stammen, oder aber in ein konstruktives soziales Umfeld hineingeboren wurden und etwaige familiale Ressourcen in Anspruch nehmen konnten, profitieren im Falle einer Erbschaft vollumfänglich. Es lohnt sich also gleich mehrfach, privilegiert geboren zu werden.

Herabgebrochen und auf das Wesentliche zugespitzt bedeutet das:

Wer Pech hat, hat halt einfach Pech, weil er Pech hat.

Wer Glück hat, hat halt einfach Glück, weil er Glück hat.

Es ist jetzt nicht so, dass hier der Neid aus mir spricht. Ich gönne jedem sein Glück. Aber so sehr Glück Definitionssache ist, so ist es auch die Schuld. Wie kann es sein, dass ich als alleinstehende Mutter und Studentin Sozialhilfe beziehen muss? Was sind das für Mechanismen, die Personen, die unentgeltliche Erziehungsarbeit leisten, in die Schuld gegenüber dem Staat und insofern auch gegenüber der Gesellschaft drängen? Wie gerecht ist ein Staat, der unvermeidbare Unterstützungsleistungen von den wirtschaftlich Schwächsten zurückfordert, während andere finanzielle Ressourcen, die sie durch nichts als Zufall und ohne eigenes Zutun erhalten, vollumfänglich für sich beanspruchen und somit dem öffentlichen Fiskus vorenthalten dürfen? Ist dieses Vorenthalten nicht auch eine Form des Konsums öffentlicher Gelder? Und ist das «angemessen»?

Ich kann hierbei nur aus meiner Perspektive sprechen. Ich werde nicht erben. An Lotterien beteilige ich mich nicht, weil ich beim Thema Wahrscheinlichkeiten im Mathematikunterricht ziemlich gut aufgepasst habe. Mit anderen unerwarteten Einkünften rechne ich ebenso wenig. Glück im Unglück, könnte man sagen. Und ja, es stimmt. Verglichen mit anderen Sozialhilfebezüger:innen habe ich sehr gute Karten. Zumindest wenn es darum geht, eine nachhaltige Ablösung von der wirtschaftlichen Sozialhilfe zu erzielen. Finanziell betrachtet, ist das so. Aber allein die Aussicht auf eine baldige, nachhaltige Ablösung macht das Erleben der Gegenwart nicht wesentlich ertragbarer. Die grösste Herausforderung stellt für mich der tägliche Umgang mit der Feststellung dar, für andere nicht wahrnehmbar zu sein. Sich immerzu erklären zu müssen, weil man sich ganz klar abseits der Norm befindet. Immer diesen ersten Schritt machen zu müssen, im Wissen, dass man hinterher doch nicht verstanden werden kann. Dass man für andere nicht nachvollziehbar ist. Diese Ratschläge ertragen zu müssen, geduldig, nur um sich im Nachhinein zu bedanken, für etwas, das zwar gut gemeint und in der Theorie sinnvoll, aber mit der eigenen Lebensrealität nicht ohne Weiteres vereinbar, und deshalb nutzlos ist.

Spartipps von Personen zu erhalten, die selbst keine Sozialhilfe beziehen. Ungefragte Erziehungstipps oder Zurechtweisungen von Eltern, die sich auf familiale Betreuungsstrukturen verlassen und sich Entlastungsmöglichkeiten finanzieren können. Ich kann das nicht.

Ich kann hingegen meinem Kindergartenkind immer wieder erklären, wieso die Spielkameraden in der Schulferienzeit nicht da sind, weil eben alle andern in die Ferien verreisen, während wir das nicht können. Wieso wir, wenn wir unterwegs sind, unser eigenes Essen und Trinken mitnehmen und nicht spontan irgendwo einkehren können. Wieso das Unterwegssein überhaupt nicht selbstverständlich ist. Wieso wir generell nicht spontan sein können. Wieso wir unser Essen immer selbst zubereiten und nicht einfach mal aus Bequemlichkeit Pizza bestellen können. Wieso wir nicht einfach das einkaufen, was uns schmeckt, sondern das, was unser Budget uns vorgibt. Von Zeit zu Zeit darf ich dann auch immer wieder darauf hinweisen, dass Kaffeetrinken auswärts für mich einfach absurd teuer ist, und deshalb keine Option.

Das Problem daran ist nicht primär, dass ich darunter leide, weniger Möglichkeiten als andere zu haben. Das, was mir wirklich zusetzt, ist die soziale Isolation, die dadurch entsteht, und der ich mir durch das mir-selber-zuhören während meiner Erklärungsversuche immer wieder gewahr werden muss.

Täglich, mehrmals. Und das ebenso im Konkreten wie auch im Gedachten. Das Gefühl, dass man einfach nicht dazu gehören kann. Man ist und bleibt nicht wahrnehmbar, so sehr man sich auch darum bemüht, es zu sein. Und das auszuhalten ist auf Dauer wahnsinnig anstrengend und kräfteraubend.

Warum bin ich nicht wahrnehmbar?

Weil wir die Realität der Zustände, von denen wir nicht selbst betroffen sind, gemäss unserer eigenen Lebensrealität konstruieren. Und weil wir deshalb vieles nicht realgetreu adressieren.

Weil wir von Fallzahlen statt von Potenzialen sprechen.

Weil wir zu wenig darüber reden, was es wirklich bedeutet, wenn man in der Schweiz von Armut betroffen ist.

Weil wir die Gespräche darüber einseitig, zumeist aus einer privilegierten Perspektive heraus, führen.

Und weil wir sie nicht auf Augenhöhe führen.

Weil wir die Personen, die davon betroffen sind, nicht gleichwertig teilhaben lassen.

Weder in der Öffentlichkeit noch privat.

Weil wir dazu neigen, aus der Distanz zu urteilen und zu bestimmen.

Und weil dadurch vieles unvorstellbar bleibt, das per se unvorstellbar ist.

Weil wegschauen einfach bequemer ist, als wirklich hinzusehen.

Jedenfalls solange man davon selbst nicht betroffen ist.

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