Winterrede Paul Kim: «Solidarität wurde vermutlich für Schwächlinge erfunden»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 15. bis 26. Januar 2024 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Paul Kim
hedon ess tisch bein neck mich.
sich kein leben vorzulügen. ist künst.
im gleichen brot sozusagen.
alles eine frage der per speck tiefe.
denn. wir hier alle sitzen.
mehr oder weniger komfortabel.
jedenfalls. meist. noch. nicht ums nackte
überleben kämpfend.
Guten Abend.
Ich bin Paul Kim. In meiner teilweise zugespitzten Rede steht das Konzept der Verantwortung im Zentrum – die Verantwortung aller hier lebenden Menschen für die Gestaltung und den Fortbestand der Demokratie. Aber auch meine mich zur Verzweiflung treibende Verantwortung als Vater im Zusammenhang mit der Smartphone-Nutzung meiner Kinder.
Ich erhebe nicht den Anspruch, Recht zu haben bzw. argumentativ richtig zu liegen, noch die Lösung zu kennen oder mich bisher überdurchschnittlich für den Erhalt der Demokratie eingesetzt zu haben. Auch wenn es manchmal so wirken könnte. Ich möchte das Publikum vor Ort, die via Radio Zugeschalteten sowie die später meine Rede Lesenden zum Mit- und Weiterdenken, zum Mitdiskutieren, zum Positionsbezug und am liebsten zum gemeinsamen Handeln anregen.
Gelegenheit, damit zu beginnen, gibt es bereits in ca. einer Viertelstunde im Bistro von Karl*a.
Ich habe meine Winterrede mit kurzen Texten angereichert, die ich jeweils unter dem Label «kimpaul geht dichter ran» als Textjockey an meinen Lesungen vortrage.
verantwortung bedingt die übernahme derselben
Demokratie ist der aufwändige Versuch, möglichst viele, theoretisch alle, zumindest indirekt an der Macht zu beteiligen. Sie macht wenigstens alle Stimmberechtigten mitverantwortlich für die Lebensqualität innerhalb ihres Landes. Demokratie ist meiner Meinung nach ein sehr aufwändiges und anspruchsvolles Verfahren, da vieles verhandelbar ist, früher oder später wieder neu- oder nachverhandelt werden kann oder gar unter Zeitdruck an neue Umstände angepasst werden muss bzw. müsste.
Eine demokratische Gesellschaft beruht auf respektierten Regeln, die dazu da sind, dass die staatliche Macht geteilt, delegiert, organisiert sowie zeitlich beschränkt wird und so Raum für individuelle Freiheiten erst möglich machen.
da sassen sie nun mitten in der steueroase
und wussten weiterhin nichts mit sich anzufangen
Wenn demokratisch fundierte Freiheit zunehmend dazu genutzt wird, persönliche Bedürfnisse und wirtschaftliche Interessen kompromisslos einzufordern und/oder durchzusetzen, unterspült dies das fragile politische Konstrukt, den stillschweigenden Konsens.
solidarität wurde vermutlich für schwächlinge erfunden
Wenn beispielsweise bei sogenannt systemrelevanten Grossbanken ein paar rettende Milliarden aus dem Hut gezaubert werden und andererseits die Witwenrenten, ausser diejenigen der Bundesratswitwen, abgeschafft werden sollen, vermag dies das Gemeinschaftsgefühl vermutlich nicht zu stärken.
wo bitte geht es zum fenster?
In autokratisch regierten Ländern liegt die ungebrochene Macht in den Händen weniger. Mitsprache, Mitverantwortung und Widerspruch sind nicht vorgesehen. Richtig ist, was den Machthabenden recht ist.
Rede- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Menschenrechte u.v.a.m. sind nicht gewährleistet.
nicht in jedem pinguin steckt ein toller hecht
In hierarchisch aufgestellten Firmen, Konzernen, Familien etc. geht es ähnlich zu und her. Denn auch hier verhält sich alles, was nicht top, also down ist, besser möglichst unauffällig, folgt den gemachten Vorgaben oder tut zumindest möglichst glaubwürdig so.
Zum Peter-Prinzip will ich nur kurz festhalten, dass es sich in einer Top-down-Umgebung vermutlich wohler fühlt und eher nicht familientauglich ist.
im park mit sohn und parkinson
Meinem Körper und meinem Geist fehlt der wichtige Botenstoff [Neurotransmitter] Dopamin zunehmend. Trotz medikamentöser Therapie und twentyfour/seven laufendem Tiefenhirnstimulator nehmen die unangenehmen Phasen zu.
Dopamin spielt – zumindest gefühlt – bei allen körperlichen und psychischen Vorgängen eine wichtige bis entscheidende Rolle.
alles zieht mit leichtigkeit vorbei
und verliert mich aus den augen
Ich fühle mich bspw. schnell eingeengt, überfordert und gestresst. Bewegungen – wie von A nach B laufen, in der Nase bohren, Spaghetti auf die Gabel drehen –, die zuvor automatisiert bis automatisch abliefen, muss ich meinem Körper bewusst vordenkend abverlangen. Jeder Reiz von aussen stört bzw. unterbricht meine Gedankenkrücken.
schweizer pässe sind leichter zu überqueren als zu bekommen
Es wird für mich zunehmend schwierig, mich in Zürich zu bewegen, wenn viele unterwegs sind, da das zuvor problemlos funktionierende antizipierende Abbremsen, Ausweichen, Beschleunigen sehr viel anstrengender geworden ist.
unzufriedenheit bedarf wenig anstrengung
In der Küche beim Rüsten einer hundskommunen Zwiebel [Anmerkung: Ich liebe Hunde und Zwiebeln] kann eine alltäglich harmlose Frage, Bewegung etc. zur akuten Bedrohung meiner Konzentration werden. Dieser «bedrohliche Angriff» muss abgewehrt werden. Meine verbale Reaktion ist für Menschen ohne Parkinson völlig unverhältnismässig und daher auch unverständlich.
sich plötzlich nichts mehr zu sagen haben
Sobald ich aus dem Notfall- wieder in den Normalmodus zurückgekehrt bin, kann ich meine Überreaktion erkennen, mich entschuldigen und zu erklären versuchen. Wobei weder das Erklären für mich noch das Verstehen für mein Gegenüber einfach ist. Aber auch unabdingbar, damit solche Situationen möglichst nicht entstehen.
ist das inter nett?
Seit das Internet 1983 online ging, wurde es zur weltweit operativen Giga-Shopping-Mall ausgebaut, in der alles verkauft und gekauft werden kann.
Das Internet ist im Kern sowohl grenzüberschreitend als auch verbindend. In dieser neu kreierten virtuell-entgrenzten Parallelwelt konnte und kann, im Zeichen von Fortschritt und individueller Freiheit, lichtgeschwind – von lustvoll bis schamlos – nach Gold gegraben werden.
Aus nachvollziehbaren Gründen war und ist das World Wild Web rechtlich kaum einheitlich eingrenzbar; wäre also auf den, mir noch nie begegneten, gesunden Menschenverstand angewiesen.
Denn eine weltweit einheitliche gesetzliche Regulierung des digitalen Verkehrs war und ist etwa so wahrscheinlich, wie dass sich die Vereinten Nationen in anderen Belangen auf für alle geltende durchsetzbare Vorgaben einigen können.
das smartphone twitterte vor glück
Salopp formuliert sind Smartphones zugunsten von Gewinnmaximierung als technisch geniale, juristisch und politisch verantwortungsmeidende – denkfaul, kleindimensional und psychisch abhängig machende – scheinbar userfreundliche Hosentaschen-Abzocker-Tools konzipiert. Und das alles in einer Hand. Auch in meiner. Ich kann so bspw. im Quartierladen besser bezahlen.
Heerscharen spezialisierter Top-Juristen sorgen weltweit dafür, dass möglichst alle Verantwortung beim Einzel-User hängen bleibt. Die Nutzungsbedingungen für Hard- und Software sind so ausführlich und durchgehend in juristischer Fachsprache gehalten, dass Lotta Normalverbraucherin und Otto Normalverbraucher nur die Wahl haben, diese ungelesen zu akzeptieren oder andernfalls auf den Gebrauch ihres Smartphones oder einer bestimmten App zu verzichten.
sich mit an sicherheit grenzender zuversicht
auf einen abgrund hinzubewegen
ChatGPT hat mir bestätigt, dass die Nutzung von Smartphones abhängig machen kann. Was mich weder als Vater noch als User erstaunt, geschweige denn beruhigt.
die tiefe der leere hinter den augen erahnen
Wenn wir etwas tun, das Freude bereitet, zufrieden oder gar glücklich macht, ist auch Dopamin im Spiel. Es wird in Erwartung und beim Eintreffen einer Belohnung freigesetzt und führt zu einem Lerneffekt. Dieser Mechanismus ist dazu da, Tätigkeiten, welche für das Individuum oder die Spezies überlebensnotwendig sind, positiv zu markieren, damit sie gerne getan und nicht vergessen werden: Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und einige anderen Dinge gehören vermutlich dazu.
Die Erinnerung an ein besonders viel Dopamin ausschüttendes Ereignis motiviert uns also dazu, diese Situation erneut anzupeilen. Unsere Aufmerksamkeit wird so bspw. beim Anblick eines Smartphones auf die potentiell eingetroffenen Likes unserer Posts gelenkt bzw. konditioniert.
selbst das tattoo hinterliess keinen bleibenden eindruck
Auf Instagram haben die potentiell abzuerntenden Likes Herzform und sind rot. Deren mögliche Anzahl ist theoretisch nach oben offen und auch sehr davon abhängig, wieviel Zeit und Aufwand nötig war, um diese von anderen Usern oder Bots zu erhalten.
Auf jeden Fall bringen konstant mehr Likes als gewohnt das System früher oder später dazu, die Anzahl Rezeptoren, die durch ausgeschüttetes Dopamin besetzt werden müssen, zu reduzieren, was dann paradoxerweise dazu führt, dass immer mehr Likes und auf Insta verbrachtes Networking nötig werden, um ein Glücksgefühlchen zu verspüren.
Wenn dann plötzlich weniger Likes als gewohnt reinkommen, treten wiederum, vereinfacht erklärt, Entzugserscheinungen auf.
sehnsucht ist ein gewürz
Damit der Aufsuch- bis Sucht-Effekt auch tatsächlich eintrifft, wurde und wird viel Zeit und Geld in entsprechende Forschung investiert. Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Sparten haben es geschafft, dass sehr viele von uns ins Netz gegangen und dort mehr oder weniger hängen geblieben sind.
Viele dieser Experten versuchen, ihre Kinder möglichst fern der smarten Maschinen und Spielkonsolen aufwachsen zu lassen. Da sie sehr gut bezahlt wurden und werden, können sie sich entsprechende Lern- und Wohnsettings leisten.
das grosse glück wird oft verkannt
und ist selten zufrieden
Viele Staaten erlauben zwar, die Ware ungestraft anzubieten und geben auch gerne Empfehlungen zum gesunden Gebrauch ab und legen bspw. Altersgrenzen fest. Überlassen es aber gerne den Eltern, sich gegen all die verlockenden Angebote zu stemmen.
Was früher oder später ein Ding der Unmöglichkeit wird, da die gut platzierte Werbung und die bereits ins Netz gegangen Peers den Widerstand der noch – scheinbar oder tatsächlich – dagegenhaltenden Eltern eher früher als später brechen werden.
algorithmisches flirten ist wie tinder zeugen im darknet
Am diesjährigen WEF in Davos zum allerersten Mal auf der Liste der Risikoexperten und gleich unangefochten auf Platz 1 thront die technologie-getriebene Fehlinformation; Fake News oder die Kunst der List mit heutigen Mitteln!
mit leichtem handy das schaf wegführen
[frei nach: Die Kunst der List von Haro Senger; Strategem 12]
Platz 2 gehört der technologischen Entwicklung, die ihr Gefahrenpotenzial erst in Kombination mit Platz 3 entfaltet: Mittels Künstlicher Intelligenz [KI] lassen sich heute ohne viel Aufwand gefälschte Videos und Tonaufnahmen erstellen und diese schnell und gezielt via Social Media verbreiten.
polarisierende blasen-bildung für gross und klein
Auf dem dritten Platz befindet sich die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung. Eckpfeiler einer Demokratie wie Solidarität, Kompromissfähigkeit, Engagement, Diskurs werden zu Egoismus, Kompromisslosigkeit, Desinteresse …
Menschen tendieren dazu, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben. Off- und online. Online wird diese menschliche Eigenart durch Abschöpfen, gezielte Aufbereitung und Rückführung von Userdaten noch verstärkt. Ziel dabei ist, die User möglichst lange online zu halten, um passgenaue Werbung zu platzieren, Konsum auszulösen, weitere verwertbare Daten zu generieren … und so den Gewinn zu steigern.
wir lassen uns gerade algorithmisch einbüchsen
ausbüchsen ist nicht vorgesehen
Wieviel Langweile
Mafia
Einsamkeit
Selbstverwirklichung
Armut
Überwachung
Mutlosigkeit
Subvention
Vorurteile
Gier
Gefühlskälte
Bevorzugung
Kickback
Steueroptimierung
Blauäugigkeit
Verlogenheit
Schere im Kopf
Fremdes
Existenzangst
goldener Fallschirm
Toleranz
Pseudopressefreiheit
Sicherheit
Geschlechterkampf
Sucht
Waffenlosigkeit
Hoffnungslosigkeit
Fehlurteile
Innovation
Political Correctness
Verwaltung
Fake News
apolitische Kunst
Wahrheit/Facts
Offenheit
Bequemlichkeit
Kompromisslosigkeit
Lobbying
Verantwortungsdiffusion
Bedrohung
Internet u.v.a.m.
erträgt die Demokratie?
Vielen Dank!
Alle Winterreden 2024 zum Nachlesen:
- Winterrede Sofia Karakostas: «Kultur stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt»
- Winterrede Anna Auguste Penninger: «Es geht weniger ums Besitzen und mehr ums Miteinander»
- Winterrede Xu Xu: «Zukünftige Städte konkurrieren um die Zufriedenheit der Mitmenschen»
- Winterrede Ray Belle: «Drag erlaubt einem Menschen so unglaublich vieles.»
- Winterrede Katharina Di Martino: «Armut reproduziert sich. Über Generationen hinweg.»
- Winterrede Madeleine Marti: «Alte Lesben werden kaum wahrgenommen»
- Winterrede Paul Kim: «Solidarität wurde vermutlich für Schwächlinge erfunden»
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!