Trotz Rad-WM: Im Zweifel verliert das Velo

Gerade geschieht in Zürich das Undenkbare. Im Rahmen der Rad-WM werden kilometerweise Strassen für Autos gesperrt. Im Alltag jedoch stehe das Velo nach wie vor auf verlorenem Posten da, schreibt unser Kolumnist Thomas Hug.

Velo dunkel Kurier
Dass die Rad-WM der Velovorzugsroute zum schnellen Erfolg verhilft, bezweifelt der Mobilitätsexperte Thomas Hug. (Bild: Unsplash)

Plötzlich wird alles möglich für eine exklusive Gruppe an Velofahrenden. Sogar der Regierungsrat Mario Fehr, sonst bekannt für seine Verhinderungspolitik, steigt für die Rad-WM in den Sattel. Von einem Leuchtturmprojekt spricht er, «das der Bewegung auf zwei Rädern einen grossen Schub verleihen wird».

Während wir an der Rad-Weltmeisterschaft viele Sieger:innen auf dem Velo bestaunen können, geht das Velo in Zürich selten als Gewinner hervor. Denn die Liste der Absurditäten, weshalb der Stadt zufolge keine sichere Veloinfrastruktur in absehbarer Zeit umgesetzt werden kann, wächst auch mit der Rad-WM immer weiter.

Duell 1: Die drei Strassenlampen

Die Runde um den Hauptbahnhof ist der Velo-Horror schlechthin. Die Strasse direkt vor dem HB wurde 2023 saniert. An der Verkehrsführung hat sich nicht viel geändert, Verbesserungen für das Velo gab es keine.

Besonders kurios mutet die Erklärung an: Drei Strassenlaternen hätten verschoben werden müssen – da darunter das Shopville ist, wäre das etwas aufwendiger als sonst geworden. Das wurde von den Verantwortlichen als unverhältnismässig eingeschätzt. Strassenlampen versus Velo: Klarer Sieg für die Strassenlampen.

Duell 2: Der Mehrzweckstreifen

Schon seit rund 15 Jahren plant die Stadt eine neue Verkehrsführung in der Innenstadt. Es könnte auch ein Befreiungsschlag für die Velos werden, denn heute gibt es keine sichere Route für Velos durch den Kreis 1. Kürzlich deckte aber der Tages-Anzeiger auf: Statt einer sicheren, baulich abgetrennten Veloführung setzt die Stadträtin lieber auf einen Mehrzweckstreifen und schmale Velostreifen. Mehrzweckstreifen versus Velo: Der Mehrzweckstreifen dominiert das Duell.

Duell 3: Mehr Hardbrücke-Lösungen

Die Veloführung bei der Tramhaltestelle an der Hardbrücke ist berühmt und berüchtigt. Mit blinkenden Lämpchen sollen Konflikte zwischen Velofahrenden und Menschen zu Fuss entschärft werden. Was gut gemeint ist, sorgt trotzdem immer wieder für Irritationen.

Bei der Hardbrücke mag dies aufgrund des Platzmangels die einzige Möglichkeit sein. Nun soll diese Lösung in leicht abgeänderter Form vermehrt genutzt werden. Trotz heftiger Widerrede durch die Politik soll eine ähnliche Lösung mit Ampeln jetzt auch beim Kunsthaus für Verwirrung sorgen – ohne dass der Platz knapp wäre. Die Begründung des Stadtrats: Lieber ein breites Trottoir statt eine separate Veloführung. Lämpchen versus Velo: Das Velo wird geblendet und verliert auch diesen Zweikampf.

Mit einem witzigen Video mit Starbeteiligung versuchte die Stadt bei der Bevölkerung Sympathien für die Hardbrücke-Lösung zu gewinnen:

Duell 4: Grün-rot-gelbes Farbchaos

Zürich ist weiterhin eine Stadt, wo Veloinfrastruktur lieber gemalt wird, statt gebaut. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Bei diversen Bauprojekten sollen bereits abgesetze Radwege zurückgebaut werden. So müssen wir uns bald von den jenen an der Kornhausstrasse oder Badenerstrasse verabschieden.

Trotz parlamentarischen Vorstössen lehnte der Stadtrat einen Paradigmenwechsel in den Velostandards ab. Ungeachtet davon, dass diverse Studien zeigen, wie baulich abgetrennte Radwege mehr Menschen zum Velofahren verleiten können. Farbe versus Velo: Pinsel und Maler:in entscheiden das Duell klar für sich.

Nur in ein paar Einzelfällen gelingt auch dem Velo den ein oder anderen Punkt. Dass die Critical Mass wieder rollen darf, zählt dazu. Auch kleinere Spurumnutzungen gehören zu den Erfolgen, die aber noch nicht in der Profiliga spielen. Auch ist der Ausgang der Velorouten-Initiative offen – vier Jahre nach Annahme der Abstimmung ist noch keine einzige Route im Sinne der Forderung umgesetzt. Stattdessen entwickelt sich die Initiative zum Boomerang: Statt die grossen, gefährlichen Kreuzungen anzugehen, werden momentan die städtischen Ressourcen an den Quartierstrassen gebunden.

Daran kann auch ein Grossanlass wie der Rad-WM nichts ändern. Das Velo kämpft in den Stadtzürcher Strassen weiterhin auf einer Aussenseiterposition. Ob dank einigen Veloprofis mehr Schwung in die Sache kommt, bleibt zu bezweifeln.

Zürich braucht dringend eine Person, die das verkehrspolitische Peloton anführt und richtig in die Pedale tritt. Denn wie Einstein so schön sagte: «Um auf dem Fahrrad die Balance zu halten, musst du in Bewegung sein.»

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