Zürich braucht wieder eine Critical Mass

Zürichs Velopolitik stockt, so Kolumnist Thomas Hug. Er ruft zur Velo-Demonstration am Freitag auf. Im Gegensatz zur Critical Mass habe diese Demo sowohl eine Bewilligung als auch eine klare Botschaft: Lasst die Critical Mass wieder rollen!

Critical Mass Polizei
Die Lebensfreude der Critical Mass ist einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Velofahrenden gewichen. (Bild: Thomas Hug)

Wer in Zürich Velo fährt, merkt schnell, dass man hier nicht im Fokus der städtischen Verkehrspolitik steht. Und auch die gemessenen Zahlen der Veloförderung sind im Vergleich zu anderen Schweizer Städten nicht gerade berauschend. Denn während es andere Städte in der Schweiz vermehrt schaffen, dass ihre Bevölkerung auf das Velo umsattelt, stagniert der Anteil an Velofahrer:innen auf Stadtzürcher Strassen. 

Doch an einem Ort sticht Zürich alle anderen Städte aus: Monat für Monat fanden sich Tausende Menschen für das grösste Velo-Happening der Schweiz zusammen. Denn was an normalen Tagen in Zürich kaum denkbar ist, sollte immerhin einmal im Monat im Schutz der Gruppe möglich werden: Sicher und sorgenfrei in der Limmatstadt Velofahren.

Dafür sorgte die Critical Mass. Sie fand in den 90er-Jahren in San Francisco ihren Anfang und bezeichnet sich selbst als «monatlich organisierten Zufall». 2021 nahmen in Zürich rund 10’000 Menschen an der Critical Mass teil. Es dürfte wohl eine der wirksamsten Zürcher Veloförderungsmassnahmen überhaupt gewesen sein – denn viele Menschen realisierten dank der Critical Mass, dass Velofahren in Zürich Spass machen kann. So entstand in Zürich jeweils kurzzeitig eine Freude am Velo, wie es die städtische Veloinfrastruktur kaum je geschafft hat.

Doch seit letztem Sommer wurde auch diese kleine Freude im Keim erstickt. Eine Gruppe von bürgerlichen Politikern hat dafür gesorgt, dass die Critical Mass als Demonstration betrachtet werden muss und eine Bewilligung braucht. Seither geht die Polizei mit entschiedener Härte gegen diesen «monatlich organisierten Zufall» vor. 

Die Freude, wie sie noch 2021 zu spüren war, ist nun der Angst vor polizeilichen Massnahmen gewichen. Statt Autoposer an der freitagabendlichen Bürklirunde zu hindern, nimmt sich die Polizei nun mit einem Grossaufgebot die Velofahrenden vor. Kein Wunder also, dass nicht mehr viele Leute die Lust verspüren, unter diesen Umständen an der Critical Mass teilzunehmen. Denn das Kernangebot der Ausfahrt, dass sie Sicherheit und Freude auf dem Velo bieten kann, hat sie durch das Verbot verloren.

Inzwischen ist bald ein Jahr vergangen und Zürich hat es nicht hingekriegt, ein Alternativangebot aufzubauen. Die Verhandlungen mit der Stadt sind inzwischen eingeschlafen. Es scheint keine Bewilligungsform zu geben, die auf die Critical Mass passt. Und es scheint den zuständigen Stadträt:innen gerade recht, dass sie nicht monatlich daran erinnert werden, dass die Critical Mass weiterhin der einzige Weg ist, sicher in Zürich Velofahren zu können. Immer noch braucht es politische Vorstösse zur Verbesserung der Veloinfrastruktur aus dem Parlament. Und immer noch stossen diese nur auf wenig Gegenliebe.

Zürich braucht die Critical Mass also dringender als auch schon. Statt Zürichs beliebteste Velo-Bewegung zu unterbinden, sollte die Stadt diese Errungenschaft nutzen und darauf aufbauen. Verschiedene Veloorganisationen und Parteien rufen deshalb zur Demonstration am Freitagabend auf.

Im Gegensatz zur Critical Mass hat diese Demo sowohl eine Bewilligung als auch eine klare Botschaft: Lasst die Critical Mass wieder rollen!

«Die velofahrende Bevölkerung will nur, was die Veloprofis auch möchten: Sicher und sorgenfrei durch Zürich fahren.»

Thomas Hug vergleicht die CM mit der Rad-WM

Die fehlenden Fortschritte bei der Veloinfrastruktur können mit dem Verbot der Critical Mass nicht einfach ausgeblendet werden. Stattdessen stauen sich so Ängste und Unzufriedenheit weiter auf. Während für die diesjährige Rad-WM in Zürich alles möglich gemacht wird, scheint es keinen Weg zu geben, diese friedliche Veloausfahrt zu ermöglichen. Für Veloprofis können Strassen gesperrt und unzählige Verhandlungen abgehalten werden, bis auch die letzten kritischen Stimmen verstummen. Die Zürcher Bevölkerung hingegen muss weiterhin träumen, dass nicht bereits bei kleinsten Hindernissen alle Velomassnahmen begraben werden – wie jüngst drei banale Strassenlampen beim HB einen wichtigen Veloweg verhinderten.

Die velofahrende Bevölkerung will nur, was die Veloprofis auch möchten: Sicher und sorgenfrei durch Zürich fahren. Es ist an der Zeit, dass die Stadt Wege aufzeigt, wie das positive Veloerlebnis wieder aufleben kann. Dabei ist es sekundär, ob sie die Critical Mass selbst organisiert wie die Stadt Stuttgart oder eine eigene Bewilligungsform neu entwickelt. Wichtig ist, dass endlich eine Praxis kommt, die Freude, Spass und Optimismus beim Velofahren wieder ermöglichen. Besser bald, denn der grosse Velosommer steht vor der Türe. Alles andere wäre der Gastgeberin der Rad-WM 2024 unwürdig.

Thomas Hug

Thomas Hug ist Verkehrsplaner und Stadtentwickler bei urbanista.ch und engagiert sich für zukunftsfähige Lebensräume – stets auf der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht von Arbeit, Aktivismus und Politik. Als Experte für Verkehrswende und nachhaltige, inklusive Mobilität versucht Thomas eine menschenzentrierte Sicht auf die Mobilität zu fördern. Er ist eher Generalist mit dem Blick auf das Ganze wie Spezialist mit dem Auge fürs Detail.

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