Gemeinderats-Briefing #85: Vielredner und Fehlkalkulationen

Wieder einmal fällt die städtische Rechnung um mehrere hundert Millionen Franken besser aus, als budgetiert waren. Eine Überraschung ist das für niemanden, doch erstmals verweigert die FDP aus Protest ihre Zustimmung.

Es war wenig überraschend, was Marion Schmid (SP) gestern zu Beginn der Sitzung ihren Ratskolleg:innen auftischte. Erstmals belegte sie mit konkreten Zahlen, was Beobachter:innen des politischen Geschehens längst vermuteten: Die Männer reden deutlich mehr im Gemeinderat.

Schmid wies in einer persönlichen Erklärung darauf hin, dass der Gemeinderat vor über zwei Jahren einen Beschlussantrag für ein Genderwatch-Protokoll von Selina Walgis (Grüne) und ihr überwiesen hatte (wir berichteten). Die Datenaufbereitung zu den Redezeiten von Gemeinderät:innen ist zwar noch nicht implementiert, Schmid hatte sich aber die Mühe gemacht, die bereits vorhandenen Daten selbst auszuwerten.

Ihr Ergebnis: Unter den zehn Ratsmitgliedern mit der meisten Redezeit befindet sich mit Tanja Maag (AL) gerade mal eine Frau. Die vordersten drei Ränge belegen in dieser Reihenfolge zwei Männer von der SVP und einer von den Grünen. Bei der Anzahl der Wortmeldungen steche unter anderem Sven Sobernheim (GLP) hervor, so Schmid: Er halte zwar die zweitmeisten Voten, doch halte diese so kurz, dass er unter den Vielrednern nur auf Platz 11 lande.

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Illustration: Zana Selimi (Quelle: Zana Selimi)

Genauso wenig überrascht durfte man am gestrigen Abend über die städtische Jahresrechnung 2023 sein, die der Gemeinderat mehrheitlich absegnete. Sven Sobernheim, seit kurzem Präsident der Rechnungsprüfungskommission, machte seinem Ruf der kurzen Voten alle Ehre und ratterte die Kennzahlen der Rechnung in rasantem Tempo herunter: Einem Aufwand von 10,63 Milliarden Franken steht ein Ertrag von 10,86 Milliarden Franken gegenüber, das bedeutet einen Ertragsüberschuss von über 231 Millionen Franken. Budgetiert gewesen war ein Verlust von 262,4 Millionen, die Abweichung beträgt also über eine halbe Milliarde Franken.

Dass die Rechnung wie schon in den Vorjahren deutlich besser ausfiel als das Budget, hat, wie schon in den Vorjahren, vor allem mit besonders hohen Steuereinnahmen zu tun. Sie lagen laut Rechnung um über 400 Millionen Franken höher als im Vorjahr. Die positive Kursentwicklung von Aktien der Flughafen Zürich AG habe fast 50 Millionen Franken mehr in die städtischen Kassen gespült, tiefer eingetretene Fallzahlen im Sozialhilfebereich hätten zu Minderausgaben von über 30 Millionen geführt. Durch rund 700 unbesetzte Stellen im Jahresdurchschnitt hat die Stadt über 67 Millionen Franken weniger ausgegeben als geplant.

Die Stadt konnte kurzfristige Schulden abbauen, die langfristigen haben sich aber erhöht. Im Namen der Rechnungsprüfungskommission ermahnte Sobernheim den Stadtrat, hier das Risiko steigender Zinsen im Blick zu behalten, und empfahl die Rechnung zur Annahme.

Franken, Geld
Mehrere Milliarden hiervon finden sich in der städtischen Rechnung wieder. (Quelle: Claudio Schwarz, Unsplash)

Andere Ratsmitglieder hatten deutlich mehr an der Rechnung zu beanstanden. Rein formell sei an ihr zwar gar nichts einzuwenden, wie mehrmals betont wurde. Es ging vielmehr darum, noch einmal Kritik an der städtischen Finanzpolitik zu üben. So erklärte Johann Widmer (SVP), seine Fraktion lehne die Rechnung wie schon in den Vorjahren ab. Die Überschüsse der letzten Jahre seien Geld, das den steuerzahlenden Bürger:innen und Unternehmen weggenommen worden sei. Die Ausgaben für überteuerte Schulhäuser, Klimaprojekte und die «Sozialindustrie» seien viel zu hoch. Bei der nächsten Budgetdebatte im Herbst müsse der Steuerfuss markant gesenkt werden.

Auch Përparim Avdili (FDP) befand, als kostenbewusster Mensch und als Steuerzahler fühle man sich mit der Rechnung etwas an der Nase herumgeführt. Der Stadtrat produziere wohlwissend Überschüsse und die linke Ratsmehrheit weigere sich, die unbesetzten Stellen aus dem Budget zu streichen oder die Steuern zu senken. Seine Fraktion schwenkte erstmals auf die Seite der SVP um und lehnte die Rechnung ab. «Die FDP wird keine weitere Rechnung annehmen, sollte der Steuerfuss nicht gesenkt werden», so Avdili.

Wie jedes Jahr enthielt sich die AL bei der Abstimmung zur Rechnung. Das gute Ergebnis sei Ausdruck davon, dass man sich in einer prosperierenden Phase befinde, begründete Tanja Maag. Es verpflichte dazu, die Überschüsse «in produktive Aufgaben oder Investitionen zu lenken». Solche Investitionen sehe man zwar im Wohn- und Gesundheitsbereich, gerade bei der Bildung passiere aber noch zu wenig, insbesondere wenn es um angemessene Betreuungsschlüssel gehe.

Die AL habe in der Budgetdebatte alle ihre Anträge im Schulbereich durchgebracht und erkläre jetzt, es werde zu wenig gemacht, konterte daraufhin Sven Sobernheim: «Es ist mir wirklich schleierhaft.»

Lobende Worte für die AOZ

Zur Debatte über die Jahresrechnung gehört immer auch diejenige über den Geschäftsbericht der Asylorganisation Zürich (AOZ). Auch hier war in der Vergangenheit oft Platz für Kritik an der städtischen Flüchtlingspolitik, besonders, nachdem Missstände im Asylzentrum für unbegleitete Minderjährige (MNA) Lilienberg bekannt geworden waren.

Inzwischen hat sich einiges verändert: Das Verwaltungsratspräsidium und die Geschäftsleitung der AOZ sind neu, der Leistungsauftrag, der zur Anwendung kommt, wenn die AOZ Leistungen im Asylbereich für den Bund oder den Kanton übernimmt, wurde überarbeitet (wir berichteten). Den Zuschlag für die kantonalen Durchgangszentren hat die AOZ daraufhin nicht mehr bekommen.

«Die Stärke unserer Stadtbevölkerung misst sich am Wohl der Schwächsten.»

Sanija Ameti (GLP) dankt der AOZ für ihren Einsatz für Geflüchtete.

«Das ist einerseits bedauerlich», fand Sanija Ameti (GLP) bei der Vorstellung des Geschäftsberichts. «Andererseits war es vielleicht auch nötig, denn es ermöglicht der Stadt, die nötigen Kapazitäten gezielt für ein bedarfsgerechtes Unterbringungs-, Begleitungs- und Betreuungsangebot für MNA und junge Erwachsene einzusetzen.»

Für die AOZ sei 2023 ein äusserst anspruchsvolles Jahr gewesen, so Ameti, und ihre Leistung in diesem alles andere als einfachen Umfeld könne sich sehen lassen. Das gelte auch für den Geschäftsbericht, den sie vor zwei Jahren noch als «Image-Broschüre» bezeichnet hatte. «Ich danke der AOZ für ihren Einsatz für die Geflüchteten und insbesondere den MNA», schloss sie: «Schliesslich misst sich die Stärke unserer Stadtbevölkerung am Wohl der Schwächsten.»

Selbst aufseiten der SVP sprach Bernhard im Oberdorf von einem Wandel bei der AOZ, der ein «Hoffnungszeichen» sei. Insgesamt sei die Arbeit der Organisation aber trotzdem zu teuer, weshalb die SVP den Bericht als einzige Fraktion ablehnte.

Man nehme die wohlwollenden Worte sehr gerne entgegen, so Stadtrat Raphael Golta (SP). Man sei ein paar Schritte vorwärts gekommen, doch für die nächste Zeit werde man weiter auf das Wohlwollen des Gemeinderats angewiesen sein: «Wir wissen nicht, was der nächste Herbst und was die nächsten Jahre bringen.»

Mehr Geld für mehr Kita-Qualität

«Viele Leute fragen sich, warum die Volksschulen städtisch und gratis sind und die Kinderkrippen privat und sehr teuer», führte Ronny Siev (GLP) gestern aus, und als werdender Vater fühle ich mich bei jenen von ihm erwähnten Leuten mitgemeint.

Antworten auf diese Frage gab es gestern einige im Rat. Sie alle sahen das Problem woanders. Für Samuel Balsiger (SVP) und Marita Verbali (FDP) war es die bürokratische Regulierungswut, die den freien Kita-Markt verzerre und die Preise in die Höhe treibe. Für Moritz Bögli (AL) hingegen waren es die Bürgerlichen, die auf übergeordneter Ebene ein System etabliert hätten, in dem Kitas nicht Teil des Schulsystems seien und deshalb halb staatlich und halb privatwirtschaftlich organisiert seien. Und Ronny Siev erklärte, die Trennung basiere auf dem überholten Familienmodell, das vorsehe, dass ein Elternteil daheim bleibe.

Dass wohl in allen Analysen ein wahrer Kern steckt, zeigt, dass das Problem der Kitakosten ein komplexes ist, das grundlegende gesellschaftliche Fragen berührt. Stadtrat Raphael Golta sprach denn auch von einem «sehr grundsätzlichen Problem aus Stadtzürcher Optik». «Bund und Kanton lassen uns bei einer so wichtigen Aufgabe der Gesellschaft im Grossen und Ganzen allein», erklärte er: «Sie agieren nur als Regulatoren.»

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Genügend Kitaplätze gibt es, jetzt soll die Qualität gesteigert werden. (Quelle: Tsüri.ch)

Zürich muss also selbst für eine ausreichende und qualitativ hochstehende Versorgung mit Kitaplätzen sorgen. Bisher hat die Stadt vor allem Subventionen ausgebaut und damit für ein genügendes Angebot gesorgt. Manche Bürgerliche sprachen angesichts einer Auslastung von 83 Prozent gar von einem Überangebot.

Gestern diskutierte der Rat eine Weisung des Stadtrats, die eine «Roadmap Kinderbetreuung» aufgleisen soll und in der es hauptsächlich um qualitative Verbesserungen bei den Kitas geht. Insgesamt acht Vorstösse, die aus dem Gemeinderat zu diesem Thema in den letzten Jahren eingereicht worden waren, sollten damit abgeschrieben werden.

Angesichts des Fachkräftemangels in der Branche lag ein Fokus der Weisung auf den Arbeitsbedingungen der Kita-Angestellten. Dafür soll es mehr finanzielle Mittel geben, unter anderem eine Erhöhung der finanziellen Beiträge zu den Löhnen der Kita-Angestellten. Aber auch Gespräche über einen Gesamtarbeitsvertrag, der in der Stadt Zürich gelten soll, sind geplant.

SP, Grüne und AL begrüssten die Vorlage und segneten sie mit ihrer Mehrheit ab. Auch die GLP stimmte mit Ja. Da man Familien gezielt und bedarfsgerecht unterstützen wolle, sei ein stärkeres Eingreifen der öffentlichen Hand in diesem Bereich gerechtfertigt, so Ronny Siev.

Die SVP stellte einen Rückweisungsantrag: Zuerst solle die Stadt sich die strukturellen Probleme im Kita-Bereich anschauen und vor allem Bürokratie abbauen, bevor mehr Geld zugeschossen werde, so Samuel Balsiger. Dem Antrag folgten sowohl die FDP als auch die Fraktion Die Mitte/EVP. «Steuerzahler, die mit Millionenbeträgen die Löhne privater Unternehmen zahlen sollen, das geht für uns nicht», begründete Karin Stepinski (Die Mitte).

Weitere Themen

  • Ein Hallenbad im EWZ-Kesselhaus: Eine grosse Mehrheit des Gemeinderats stimmte gestern einer städtischen Weisung zu, die den Einbau einer Schulschwimmanlage im ehemaligen Kesselhaus des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ) am Letten vorsieht. Grüne und AL stimmten dagegen: Sie forderten, nach einem anderen Standort für ein Schwimmbad im Schulkreis Waidberg zu suchen und das Kesselhaus für eine «schwach kommerzielle Nutzung» und Kulturbetriebe zu öffnen. Stadtrat André Odermatt (SP) erklärte, es gebe kurz- und mittelfristig keine Alternative für den Standort Kesselhaus, man bekenne sich jedoch zur soziokulturellen Nutzung auf dem ehemaligen Parkplatz und dem alten Bahnhofsgebäude direkt nebenan. 2022 war das leerstehende Gebäude kurzfristig von Aktivist:innen besetzt worden, die es als Raum für unkommerzielle Kultur nutzen wollten.
  • Rückblick aufs Alba-Festival: Përparim Avdili (FDP) schaute in einer persönlichen Erklärung zurück auf das Alba-Festival am vergangenen Wochenende. Nachdem das Festival in den vergangenen Jahren wegen der Corona-Pandemie und Verwaltungsentscheidungen mehrmals ausfallen musste, sei es in diesem Jahr trotz kurzfristiger Planung sehr professionell durchgeführt worden, so der Gemeinderat. In Zukunft wünsche er sich, dass die Veranstalter:innen von der Stadt frühzeitig einen Termin zur Durchführung bekämen. Dafi Muharemi (SP) ging auf die rassistischen Flyer ein, die auf dem Festival aufgetaucht waren (wir berichteten) und ermahnte mit Blick auf die Rassismus-Debatte in der letzten Ratssitzung, dass auch das Verhalten und die Äusserungen von Parlamentarier:innen gesellschaftliche Auswirkungen hätten: «Unsere Vielfalt ist unsere Stärke, und es liegt an uns, diese Stärke zu bewahren.»
  • Moritz Bögli (AL) ging in einer persönlichen Erklärung auf eine Schriftliche Anfrage ein, die er zusammen mit Leah Heuri und Anna Graff (beide SP) zum Polizeieinsatz gegen pro-palästinensische Aktionen an der Universität Zürich eingereicht hatte. Die Antworten des Stadtrats seien widersprüchlich und zeugten von einer mangelnden Fehlerkultur bei der Stadtpolizei, erklärte er. Unter anderem werde erklärt, man habe keine Personenkontrollen durchgeführt, aber Wegweisungen ausgesprochen und das Gepäck von Studierenden durchsucht. Er kündigte ein rechtliches Vorgehen gegen den Einsatz an.
  • Monika Bätschmann (hier ihr Porträt) wurde gestern aus dem Rat verabschiedet. Die Co-Fraktionspräsidentin der Grünen war von 1993 bis 1998 und dann wieder ab 2018 im Gemeinderat. In ihrem Rücktrittsschreiben bezeichnete sie vor allem den Umgang mit der Stadtpolizei im Rat als «betrüblich». Diese leiste einen wichtigen Beitrag in der Stadt und sie erwarte eine sachliche und neutrale Auseinandersetzung mit ihr. Wie bei anderen Berufsgattungen müsse man auch bei der Polizei genau hinschauen, «aber mit Augenmass, Respekt und Verstand».  
  • Für Andreas Kirstein, der in der letzten Woche den Rat verlassen hat, rückte gestern Christian Häberli neu in die AL-Fraktion nach. Der 63-jährige Klimatologe ist bereits der Vierte, der in dieser Legislatur bei der AL nachrückt.

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