Migrantische Stimmen in der Politik: «Zürich könnte von Genf lernen»

Die FDP wird bei den Stadtratswahlen 2026 um ihren zweiten Sitz kämpfen müssen, sagt die Politologin Sarah Bütikofer. Im Interview spricht sie über die Nominationen der Parteien und die Unterrepräsentation migrantischer Menschen in der Politik.

politologin bütikofer, dahinter grün
Politologin Sarah Bütikofer forscht zur Schweizer Politik und ist Projektpartnerin beim Forschungsinstitut Sotomo. (Foto: Joël Hunn)

Kai Vogt: Am Mittwoch hat die FDP neben Michael Baumer Përparim Avdili und Marita Verbali für die Stadtratswahl nominiert – beides Politiker:innen mit Migrationshintergrund. Die SP hingegen gab der migrantischen Kandidatin Mandy Abou Shoak den Laufpass. Könnten nun Stimmen von der SP zur FDP wandern? 

Sarah Bütikofer: Përparim Avdili tritt als klar bürgerlich politisierender Kandidat an und bietet vor allem jenen Wählenden eine Alternative, die sich eine Abkehr von der bisherigen Politik für die Stadt Zürich wünschen. Sicherlich wird Avdili auch von einigen Personen aus dem linken Lager Stimmen erhalten, aber dass sich die SP-Wählerschaft in Scharen ihm zuwendet, ist sehr unwahrscheinlich. Marita Verbali ist nahezu unbekannt, sie wird kaum Stimmen ausserhalb des eigenen Lagers erhalten. 

Die FDP tritt mit drei Kandidierenden an. Überschätzt sich die Partei?

Die FDP wird keine drei Sitze gewinnen können. Es wird schon schwer für sie, ihre beiden Sitzen zu halten, respektive Filippo Leutenegger zu ersetzen. Er ist ein schweizweit bekannter Politiker mit riesigem Beziehungsnetz. Dass nun die FDP der Stadt Zürich auf ihren Präsidenten setzt und auch gleich das Stadtpräsidium ins Visier nimmt, ist nachvollziehbar. Nur so erhält Përparim Avdili im Wahlkampf viele Gelegenheiten, sich und das FDP-Programm prominent zu platzieren. Die FDP zielt mit ihrem Ticket auch auf eine immer wichtiger werdende Wählergruppe der Liberalen: Zielstrebige und ambitionierte Secondos mit bürgerlicher Einstellung. 

Die Grünen kamen bei den Wahlen 2022 auf 14 Prozent und wollen nun einen dritten Sitz im Stadtrat erobern. Ist das realistisch?

Die Grünen setzen neben den beiden Bisherigen auf den politisch sehr erfahrenen und bekannten Nationalrat Balthasar Glättli. Vor vier Jahren schaffte es Walter Angst von der AL um ein Haar, der FDP einen Sitz wegzunehmen und der damals kaum bekannte Dominik Waser, Jungpolitiker der Grünen, schnitt ebenfalls sehr gut ab. Die Chancen standen für die Grünen selten so gut, drei Sitze zu erobern. 

Vor einer Woche hat die SP Mandy Abou Shoak, eine Schwarze Frau mit Migrationshintergrund, weder als Kandidatin für den Stadtrat noch für das Stadtratspräsidium aufgestellt. Ist das für Sie als Politologin eine nachvollziehbare Entscheidung? 

Die SP hat für den anstehenden Wahlkampf politische Erfahrung, parteiinternes Netzwerk und Bekanntheitsgrad höher gewichtet als Diversitätsmerkmale oder die Verankerung in einer sozialen Bewegung. Das ist machtpolitisch nachvollziehbar: Um Regierungsämter erfolgreich zu verteidigen, sind dies in der Regel die ausschlaggebenden Kriterien für die Nomination durch die Partei. Die SP Zürich geht hier auf Nummer sicher.

Die aufgestellten Kandidat:innen heissen Golta, Widmer, Langenegger und Brander. Hat hier die SP nicht eine wichtige Chance verstreichen lassen, sich glaubwürdig als Diversitätspartei zu positionieren? 

Die vier nominierten Personen sind entweder Bisherige oder dann langjährige Politiker:innen, denen man parteiintern ein Exekutivamt zutraut. Die SP-Delegierten haben Personen auch deswegen nominiert, weil sie in zentralen Themen der Stadtpolitik und des anstehenden Wahlkampfs, etwa beim Thema Wohnen, verankert sind.

Die Kandidat:innen stehen jedoch nicht für die sehr gemischte Bevölkerung Zürichs. Über die Hälfte der hier lebenden Menschen hat einen Migrationshintergrund. 

Praktisch keine Partei ist ein Spiegelbild der heutigen Schweizer Gesellschaft, allerdings gibt es Unterschiede zwischen den Parteien und Regionen der Schweiz. Blickt man etwas über die Zürcher Stadtgrenzen hinaus, sieht man zum Beispiel, dass sowohl im Kanton Luzern mit Ylfete Fanaj wie auch in Basel-Stadt mit Mustafa Atici Politiker:innen mit Migrationshintergrund für die SP im Regierungsrat sitzen. Diese Personen verfügten bei Amtsantritt alle bereits über beachtliche politische Erfahrung aus verschiedenen Ämtern und Staatsebenen. 

Doch bei beiden Politiker:innen handelt es sich um Ausnahmen. 

Das stimmt. Die Stimme von Menschen mit Migrationsgeschichte ist in der Schweizer Politik noch immer stark untervertreten. Allerdings ist die SP gemäss einer Untersuchung die Partei, die den höchsten Anteil von aktiven Mitgliedern mit ausländischen Wurzeln aufweist. Die Mühlen der Schweizer Politik mahlen langsam. Davon können auch die Frauen ein Liedchen singen. Die Entwicklung hin zu mehr Diversität schreitet schon voran, allerdings in einem sehr gemächlichen Tempo.

«Um die Politik diverser zu machen, ist es wichtig, stark in den migrantischen Milieus zu mobilisieren.»

Sarah Bütikofer, Politologin

Was sind die Gründe dafür, dass migrantische Menschen in der Politik noch immer unterrepräsentiert sind?

Dafür gibt es zahlreiche Erklärungen. Neben formalen Gründen wie dem fehlenden Stimmrecht ist die Rolle der Parteien entscheidend: Das politische System der Schweiz wird nach wie vor von etablierten Parteien geprägt – und weniger von sozialen Bewegungen oder vom Aktivismus. Innerhalb der Parteien muss man sich bekannt machen, um politisch voranzukommen. Allerdings treten Personen häufig über Bekannte in eine lokale Partei ein. Für Aussenstehende ohne entsprechendes Netzwerk ist der Zugang zur Politik daher meist von vornherein schon schwierig. 

Gibt es weitere Gründe?

Ein Punkt, der mir ebenso wichtig scheint, ist die Ausübung des aktiven Stimm- und Wahlrechts. Frauen gingen auch nach der Einführung 1971 deutlich seltener an die Urne als Männer – und waren dadurch schlechter repräsentiert. Bei Personen mit Migrationsgeschichte oder Eingebürgerten zeigen sich ähnliche Muster: Sie nehmen weniger häufig an Wahlen und Abstimmungen teil als Schweizer:innen ohne Migrationshintergrund.

Wie lässt sich das ändern?

Um die Politik diverser zu machen, ist es sicher wichtig, auch in den migrantischen Milieus stark zu mobilisieren und mehr Personen zu überzeugen, von ihrem Stimm- und Wahlrecht Gebrauch zu machen – sofern das vorhanden ist.

Rund ein Drittel der Menschen in Zürich haben keinen Schweizer Pass. Sie können weder wählen noch abstimmen. Wie kann eine Demokratie glaubwürdig sein, wenn so viele Menschen, die hier leben und arbeiten, kein Mitspracherecht haben?

Diese Frage muss sich unsere Gesellschaft definitiv stellen. Die politische Partizipation zu fördern, gehörte bisher nicht zu den zentralen Pfeilern der schweizerischen Integrationspolitik. Möglicherweise wird Basel-Stadt demnächst sogar der erste Kanton sein, wo eine Mehrheit der Wohnbevölkerung kein Stimmrecht hat. Dabei sollte der Zugang zur Politik und die Teilnahme auf allen Staatsebenen und für möglichst alle sozialen Schichten gefördert werden. Je mehr unterschiedliche Stimmen in der Politik repräsentiert werden, desto mehr Vertrauen haben die Menschen auch ins politische System. 

Gibt es Forschung zur Frage, wie diese Menschen wählen würden, wenn sie könnten?

Die Schweizer Wahlstudie Selects hat das Wahlverhalten von Wähler:innen mit Migrationshintergrund untersucht. Die beliebteste Partei ist die SP, gefolgt von der SVP und der FDP. Es gibt grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrationshintergründen und der erlebten Sozialisierung von migrantischen Personen, die sich auf ihre politischen Einstellungen und Entscheidungen auswirken.

Bei Personen ohne Migrationshintergrund steht die SVP mit deutlichem Abstand an erster Stelle, danach folgen SP sowie Mitte und FDP mit relativ ähnlichem Anteil. 

Gibt es andere Städte, von denen Zürich in Sachen Diversität und Repräsentation etwas lernen könnte?

Zum Beispiel in Genf könnte man sich umsehen! Der aktuelle Stadtpräsident, Alfonso Gomez von den Grünen, ist ein spanischer Secondo und der einzige Mann im fünfköpfigen Gremium. Generell sind in der Westschweiz mehr Personen mit Migrationsgeschichte politisch aktiv. Das hat handfeste Gründe: Vergleichsweise einfachere Einbürgerung, Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen in gewissen Kantonen und Gemeinden, das Vorhandensein von Parlamenten in kleinen Gemeinden, was den Zugang zur Politik erleichtert und den Menschen ermöglicht, sich politisches Wissen und Erfahrungen anzueignen. 

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 absolvierte Kai ein Praktikum bei der deutschen tageszeitung taz im Inlandsressort.

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