«Mir fehlt im Stadtrat der Mut zur Imperfektion»

Mit Balthasar Glättli schicken die Grünen ihr prominentestes Gesicht ins Rennen um den Zürcher Stadtrat. Es sei sein Traumjob, sagt er im Gespräch. Mit seiner Kandidatur will er der FDP einen Sitz abjagen – und die linke Ratsmehrheit sichern.

Balthasar Glättli schaut in die ferne
Balthasar Glättli sass von 1998 bis 2011 für die Grünen im Zürcher Gemeinderat und wurde dann direkt in den Nationalrat gewählt. (Bild: Kai Vogt)

Am Dienstagabend nominierten die Grünen den Nationalrat und ehemaligen Parteipräsidenten Balthasar Glättli offiziell als dritten Kandidaten für die Zürcher Stadtratswahl im März 2026. Gemeinsam mit den bisherigen Amtsinhaber:innen Daniel Leupi und Karin Rykart will er die grüne Präsenz in der Regierung ausbauen – und nimmt dabei den zweiten FDP-Sitz ins Visier.

Kai Vogt und Nina Graf: Sie sind ein weisser Cis-Mann in Ihren Fünfzigern – und nun der Überraschungskandidat der Stadtratswahlen. Gab es bei den Grünen keine jüngere Person, etwa eine Frau oder jemand mit Migrationshintergrund, die kandidieren wollte?

Balthasar Glättli: Am Ende war ich tatsächlich der Einzige, der sich zur Verfügung stellte. Ich habe mich bewusst erst spät gemeldet, um niemandem den Platz streitig zu machen. Nun will ich den dritten Anlauf auf den Stadtrat packen: 2002 habe ich zugunsten von Katharina Prelicz-Huber auf eine Kandidatur verzichtet, 2018 für Karin Rykart.

Dominik Waser holte bei den letzten Wahlen 2022 als junger Grüner ein überraschendes Resultat. Über 35’000 Stadtzürcher:innen wollten ihn als Stadtrat. Warum kandidiert er nicht erneut?

Diese Frage kann ich nicht für ihn beantworten. Fakt ist: 2026 geht es um einen Angriff. Da hilft ein hoher Bekanntheitsgrad. Wäre es um die Verteidigung eines bisherigen Sitzes gegangen, hätten wir sicher diverse Bewerber:innen gehabt.

Wieso kandidieren Sie nicht gleich fürs Stadtratspräsidium? Das würde Ihnen und der Partei zusätzliche Aufmerksamkeit schenken

Erstens finde ich es richtig, dass die SP als klar stärkste Kraft das Stadtpräsidium stellt. Zweitens gibt es für mich auch keinen Grund, eine Stapi-Kandidatur nur für die Show zu machen, wie das bei anderen Parteien der Fall ist.

Ich will nicht eingebildet klingen, aber ich bin sicher das berühmteste Gesicht der Neukandidierenden, vielleicht sogar auch bekannter als einige amtierende Stadträt:innen. Da braucht es keine unnötige Überhöhung. 

Die grüne Welle ist abgeebbt, 2023 sind Sie nach der Wahlschlappe im Nationalrat auch als Präsident der Grünen zurückgetreten. Haben Sie keine Angst, dass Ihre Partei nun auch in Zürich Sitze einbüsst und die Linken im Gemeinderat die Mehrheit verlieren? 

2023 machten wir immerhin das zweitbeste Resultat unserer Geschichte. Aber ja, ein Verlust in den Gemeinderatswahlen ist ein reales Risiko. Und es ist mitunter ein Grund, weshalb ich kandidiere. Ich möchte mit meiner Kandidatur den Wahlkampf der Grünen stärken und so die linke Ratsmehrheit sichern. Denn schlussendlich bewegen Menschen mehr als Parteiparolen. 

Und was motiviert Sie darüber hinaus für den Sitz? 

Ich war vor meiner Zeit in Bern 14 Jahre im Zürcher Gemeinderat. Schon damals wusste ich: Stadtrat in Zürich zu sein, ist mein Traumjob. Die Schweiz ist ein durch und durch bürgerliches Land, das sieht man in Bundesbern sehr gut. In meiner Empfindung hat sich Zürich in seinen besten Momenten als offener Gegenpol zum rechtsbürgerlichen Bundesbern positioniert.

Doch Zürich ist nicht nur links: Die zweitstärkste Partei im Gemeinderat sind nicht die Grünen, sondern die FDP.

Doch nur mit vier Sitzen mehr. Das ist ein Zufallsvorsprung. (lacht) 

«Die Stimmberechtigten wählen Parteien ins Parlament und Persönlichkeiten in den Stadtrat.»

Balthasar Glättli

Ist es nicht vermessen, gleich drei Sitze im Stadtrat zu fordern? Ihre Partei wäre im Vergleich zu den Verhältnissen im Parlament übervertreten.

Sowohl der Stadtrat als auch der Gemeinderat werden von denselben Stimmberechtigten gewählt. Wenn es Unterschiede in der Zusammensetzung gibt, sind sie demokratisch legitimiert. Die Stimmberechtigten wählen Parteien ins Parlament und Persönlichkeiten in den Stadtrat.

Sie wollen explizit einen Sitz der FDP angreifen. Doch was machen Sie, wenn Sie etwa Ihre Parteikollegin Karin Rykart verdrängen? 

Wir sind beide überzeugt, dass sie als Bisherige wiedergewählt wird. Wenn es jemanden trifft, dann nicht aus dem rot-grünen Lager. 2022 hat FDP-Mann Michael Baumer den Wiedereinzug nur knapp geschafft. Nun kommt es wohl zum Duell zwischen mir und dem neuen FDP-Kandidaten Përparim Avdili, der Filippo Leutenegger beerben möchte. 

Aber wenn es trotzdem passiert und Sie einer anderen grünen oder roten Kandidatur den Platz wegnehmen?

Dann haben die Stimmberechtigten das letzte Wort gesprochen. Aber ich wiederhole mich: Dafür gibt es keinerlei Anzeichen.

Was kritisieren Sie am derzeitigen Stadtrat?

Mir fehlt in der Zürcher Regierung manchmal der Mut zur Imperfektion. Während der Pandemie hat etwa Lausanne Strassen unkompliziert für den Velo- und Fussverkehr geöffnet. In Paris hat man in wenigen Jahren konsequent auf eine begrünte, velofreundliche Stadt umgestellt. Solche Experimente würde ich mir auch in Zürich wünschen.

Der Zürcher Regierungsrat tagte in der Nähe des Cafés, wo das Interview mit Balthasar Glättli stattfindet. Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) geht plötzlich am Tisch vorbei und witzelt: «Ich freue mich schon auf die Treffen mit dir als Stadtrat.» Glättli gibt kurz die Hand und spricht weiter.

Man muss Dinge manchmal einfach ausprobieren, statt auf die perfekte Lösung zu warten. Und dann hinstehen und Verantwortung übernehmen. Das ist nicht immer angenehm, doch unsere Zeit erfordert genau das.

Balthasar Glättli am gestikulieren
Balthasar Glättli ist Mitgründer der Sans-Papiers-Anlaufstelle in Zürich. Dieser Hintergrund passe gut zum Sozialdepartement, sagt er. (Bild: Kai Vogt)

Sie sagen, es fehlt an Mut. Die aktuellen Stadträt:innen würden Ihnen wohl entgegnen, dass rechtliche Hürden Projekte wie die Velovorzugsrouten bremsen.

Natürlich, der Rechtsstaat gilt – und das ist gut so. Er schützt die Schwächeren. Aber er darf nicht zur Ausrede für Entscheidungsschwäche in der Verwaltung werden. Wenn sich auf Velovorzugsrouten Autos stauen und dahinter eigentlich ein Konzept steht, um genau das zu verhindern, müsste man es eben strikter durchsetzen.

Besonders beschäftigt die Zürcher:innen die Wohnungsnot. Was ist Ihr Ansatz?

Es ist entscheidend, dass die Stadt Liegenschaften kauft. Das ist eine Investition in bezahlbaren Wohnraum. Wenn sie zur Kostenmiete angeboten werden, sinkt langfristig der Mietspiegel.

Auch Aufstockungen machen Sinn, aber wir brauchen nicht noch mehr überteuerte Wohnungen, sondern mehr bezahlbare. Es braucht klare Regeln, damit neue Wohnungen nicht überteuert auf den Markt kommen.

Haben Sie ein Wunsch-Departement?

Nein. Ich bin lange genug in der Politik, um zu wissen, dass man sich da nicht festlegen sollte. Wenn ich aber meine Kompetenzen betrachte: Im Bereich Integration und Asyl bringe ich viel Erfahrung mit. Ich war Mitgründer der Sans-Papiers-Anlaufstelle in Zürich. Deshalb hätte ich für das Sozialdepartement viel Herzblut. Aber auch die Industriellen Betriebe wären spannend. Dort spürt man vom rot-grünen Zürich bisher wenig.

Und wenn Sie nicht gewählt werden?

Dann wäre das natürlich ein herber Rückschlag. Aber damit muss man in der Politik leben können.

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 zog es Kai nach Berlin. Dort absolvierte er ein Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz.

2023-05-02 Nina Graf Portrait-13

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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