Prämienbelastung

Schulden durch Krankenkassenprämien: Wenn das Einkommen nicht mehr reicht

Hochprozentig arbeiten und jeden Franken zweimal umdrehen – in der Schweiz ist das für immer mehr Menschen Realität. Krankenkassenprämien, Miete, Kinderkosten: Wer Pech hat, steckt schnell in einer Spirale aus Schulden.

Person, die auf braunem Holztisch in der Nähe von weissem Keramikbecher schreibt
In den letzten 15 Jahren sind die Ausgaben pro versicherter Person im Kanton Zürich um etwa die Hälfte gestiegen. (Bild: Unseen Studio / Unsplash)

«Ich stand oft mit nur noch ein paar Franken im Portemonnaie im Laden und musste überlegen, wie ich damit die letzten Tage des Monats noch etwas zu essen auf den Tisch bringen kann», sagt Claudia Schwarz aus Zürich. 

Sie ist Sozialversicherungsfachfrau, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, zwei davon leben noch bei ihr. In ihrer kleinen Wohnung teilen sie sich die beiden Zimmer; sie selber schläft im Wohnzimmer. Für mehr reicht es nicht.

Claudia Schwarz ist armutsbetroffen. Ihr Alltag besteht aus einem ständigen Abwägen, aus unzähligen kleinen Entscheidungen, die über Stabilität oder Unsicherheit entscheiden. «Ich kämpfe seit Langem darum, mich aus der Armutsspirale zu befreien. Es ist unglaublich schwierig», sagt sie. Ihre Strategien: Ein Umzug in eine kleinere Wohnung, der Verzicht auf ein eigenes Zimmer, auch bei der Krankenkasse und Handy-Abo sucht sie konsequent nach der günstigsten Lösung.

Ein weit verbreitetes Problem

So wie Claudia Schwarz geht es vielen. Eine repräsentative Umfrage des Preisvergleichsportals Comparis von 2025 zeigt: Jede vierte erwachsene Person muss «auf jeden Franken schauen und sich sehr einschränken, um alle Rechnungen begleichen zu können». Besonders belastend bleiben die Krankenkassenprämien: Fast jede sechste Person hat Schwierigkeiten, sie zu bezahlen.

2023 lebte mehr als jede siebte Person in der Schweiz in einem Haushalt mit mindestens einer offenen Rechnung, wie das Bundesamt für Statistik berichtet. Der Dachverband Schuldenberatung Schweiz schreibt: Schulden treffen «viele ganz normale Menschen» – besonders häufig Menschen zwischen 30 und 50 Jahren, Alleinstehende und Alleinerziehende.

«Die meisten geraten wegen biografischer Brüche in die Schulden – Scheidung, Krankheit, Arbeitslosigkeit»

Markus Wick, Schuldenberater Caritas Zürich

«Die meisten geraten wegen biografischer Brüche in die Schulden – Scheidung, Krankheit, Arbeitslosigkeit», sagt Markus Wick, Schuldenberater der Caritas Zürich. «Überall dort, wo das Einkommen plötzlich einbricht und ein einschneidendes Ereignis passiert.»

Kostenfaktor Gesundheit

Bei Claudia Schwarz war ein solcher Bruch die Gesundheit ihrer Kinder. Alle drei haben Beeinträchtigungen, die hohe Gesundheitskosten verursachen. Gleichzeitig musste sie ihr Arbeitspensum reduzieren, um die Kinder zu betreuen. Zwar erhält die Familie Prämienverbilligung und Invalidenrenten, doch «es gab immer wieder Dinge, die am Ende von niemandem bezahlt wurden», sagt Schwarz.

Hinzukommen ständig ändernde Rahmenbedingungen, sagt Schwarz. Zum Beispiel die Krankenkassenprämien. Selbst wenn sie ins günstigste Modell wechselt, steigen die Kosten oft trotzdem. Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Prämien im Kanton Zürich im nächsten Jahr erneut um 5,2 Prozent ansteigen. 

Nach offenen Steuern, Kreditrückzahlungen oder Kreditkartenrechnungen stellen Krankenkassenprämien das dritte grosse Schuldenrisiko dar. Fast zwei Drittel der Personen, die an Beratungsstellen Rat suchen, haben Krankenkassenschulden. «Eine relativ hohe Quote», sagt Schuldenberater Markus Wick.

Wer in die Schulden der Krankenkassen gerät, steht besonders unter Druck. Die Kassen sind gesetzlich privilegierte Gläubigerinnen: Sie können den vollen Betrag einfordern, selbst wenn jemand ein Schuldenregulierungsverfahren durchläuft. Andere Gläubiger:innen müssen sich meist mit einem Teil begnügen.

«Krankenkassen verzichten kaum je auf Forderungen. Der Verhandlungsspielraum ist minimal», sagt Markus Wick. Je höher die Prämienschulden, desto schwieriger wird es, wieder herauszukommen. 

Kantone könnten helfen – tun es aber kaum

Eigentlich könnten die Kantone eingreifen – doch sie tun es kaum. Seit Juli 2025 erlaubt es das Gesetz, dass Kantone 90 Prozent der Krankenkassenschulden von Betroffenen übernehmen und ihnen dadurch ermöglichen, in ein günstigeres Versicherungsmodell zu wechseln. 

Bisher nutzt jedoch nur der Kanton Neuenburg diese Möglichkeit, wie ein Bericht des «Beobachter» zeigt. «Das System ist widersinnig aufgebaut», sagt Wick. Denn die Kantone tragen bereits heute gesetzlich 85 Prozent der offenen Krankenkassenbeiträge. Treibt die Kasse die Forderungen später selbst ein, muss sie dem Kanton allerdings nur die Hälfte des zurückgeholten Betrags abgeben.

Aus Sicht der Kantone wäre es finanziell also überschaubar, die zusätzlichen fünf Prozent selbst zu übernehmen. So könnten sie die Verlustscheine selbst bewirtschaften und wären nicht mehr darauf angewiesen, dass die Krankenkassen aktiv werden.

So bleibt das Problem der langen Dauer bestehen: Wie bei vielen Schulden verjähren auch medizinische Forderungen faktisch selten, weil die Fristen regelmässig unterbrochen werden. Sie können über Jahre, teils Jahrzehnte bestehen bleiben – für die Krankenkassen kann es sich also durchaus lohnen, Forderungen möglichst lange offen zu halten.

Unterstützung kommt oft verzögert

Bevor es so weit kommt, können Betroffene beim Kanton Prämienverbilligungen beantragen. Doch Anträge für Prämienverbilligungen, Steuererlass oder Ratenzahlungen seien «ein grosser Dschungel», sagt Schwarz. Häufig kämen die Leistungen erst, wenn das Geld längst gebraucht gewesen wäre. «Ich habe erst jetzt die definitive Abrechnung für 2023 erhalten – 2000 Franken. Die hätte ich im letzten Jahr dringend gebraucht.»

Parallel steigen andere Kosten. Schwarz’ Wohnung wird saniert, die Miete steigt danach um 20 Prozent. «Schon bin ich wieder fast am gleichen Punkt wie zuvor», sagt sie. Um über die Runden zu kommen, hat sie ihr Arbeitspensum erhöht und geht zusätzlich mit Hunden spazieren. Ferien sind gestrichen, auch kleine persönliche Freuden gibt es nicht. 

Selbst Bekannte, die früher gut über die Runden kamen, kämpfen inzwischen, erzählt Schwarz. «Es wird alles immer teurer, und die Löhne steigen nicht mit.»

Schulden wachsen schnell

Der Gang zur Schuldenberatungsstelle erfolgt dabei oft zu spät. «Viele suchen erst Hilfe, wenn die Situation seit Jahren eskaliert», sagt Wick. Die Betroffenen seien überfordert und schämten sich. «Sie fühlen sich wie Verbrecher:innen. Dabei entstehen Schulden oft einfach, weil das Leben passiert.»

Einmal da, wachsen die Schulden schnell: Eine vierköpfige Familie ohne Prämienverbilligung kommt laut Wick nach nur vier Monaten unbezahlter Prämien bereits auf 4000 Franken. Steigende Gesundheitskosten verschärfen das Problem zusätzlich: medizinische Leistungen werden aus Angst vor Rechnungen seltener in Anspruch genommen.

Das bestätigen die Zahlen des Dachverbands Schuldenberatung: Je länger Menschen verschuldet sind, desto höher die Summe. Nach zwei Jahren beläuft sie sich im Schnitt auf 30'000 Franken, nach über zehn Jahren auf fast 100'000 Franken. Der Staat ist dabei der grösste Gläubiger: offene Steuern und Krankenkassenverlustscheine lasten zusätzlich auf den Betroffenen.

Schulden-Beratungsstellen sind am Limit

Die Nachfrage nach Hilfe ist seit 2022 deutlich gestiegen. «Bei Caritas Zürich haben wir eine Wartefrist von acht Wochen», sagt Wick. Auch bei anderen Schuldenberatungsstellen müssten Ratsuchende mehrere Wochen auf einen Termin warten. 

Claudia Schwarz möchte, dass ihre Erfahrung anderen hilft. «Als ich mittendrin war, hatte ich keine Kraft, darüber zu sprechen. Jetzt will ich es tun. Vielleicht hilft es jemandem, der in einer ähnlichen Situation steckt.»

Denn Armut, sagt sie, sei in der Schweiz nicht nur eine Frage des Geldes. «Es ist die ständige Rechtfertigung. Die Bürokratie, die jeden Schritt begleitet.»

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jenny

Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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