«Ich finde die moralische Hysterie der NZZ unglaublich ermüdend»
Die NZZ hat eine starke Rechtsdrift, führt «anti-woke» Kulturkämpfe und verbreitet zunehmend auch rechtsradikale Ideen. Der Publizist Daniel Binswanger hält dies für beunruhigend.
Woche für Woche kommentiert der Journalist Daniel Binswanger die Schweizer Politik – früher beim «Magazin», heute als Co-Chefredaktor der «Republik». Nicht viele verstehen die Machtdynamiken der Schweiz und das Mediensystem so gut wie er.
Im Interview äussert sich Daniel Binswanger zur politischen Positionierung der Neuen Zürcher Zeitung, zu ihrem Einfluss auf die Zürcher Lokalpolitik – und zu ihrer zunehmend illiberalen Schlagseite.
Simon Jacoby: Die NZZ titelt ihre Artikel mit «Remigration, aber richtig», oder «Ministerpräsident Höcke, na und?». Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Headlines lesen?
Daniel Binswanger: Dass die NZZ stark nach rechts gerutscht ist, ist nichts Neues. Bereits 2017 hat eine FÖG-Studie nachgewiesen, dass die NZZ der wichtigste Propaganda-Vektor in der Deutschschweizer Presse für die AfD geworden ist. Neu sind die kaum mehr kaschierten Parteinahmen für den rechtsradikalen Björn Höcke oder auch für Donald Trump. NZZ-Chefredaktor Eric Gujer sagt zwar nicht, man müsse Trump wählen, er geht etwas subtiler vor: Trump wird durchaus negativ behandelt, aber als wirkliche Gefahr wird nie er selbst beschrieben, sondern nur die Kräfte, die sich ihm entgegenstellen. Die liberalen Kritiker:innen von Trump werden von Gujer als die eigentlichen Hetzer und die Zerstörer:innen der amerikanischen Demokratie dargestellt.
Welche Strategie verfolgt die NZZ damit?
Es ist der Versuch, sich eine Pappnase der Äquidistanz aufzusetzen. Es soll so getan werden, als sei die NZZ die einzige Instanz, die unbestechlich ist und ohne Vorurteile objektiv beurteilt, wie die Dinge wirklich sind. Was jedoch faktisch betrieben wird, ist Trump-Propaganda. Ich verstehe nicht, wie es möglich ist, dass guten, konservativen, liberalen Schweizer Patriot:innen angesichts dieses Abgleitens einer der Gründungsinstitutionen des Schweizer Freisinns nicht sämtliche Haare zu Berge stehen.
Wie gross ist der Einfluss von Chefredaktor Eric Gujer, der seit zehn Jahren an der Macht ist, auf den politischen Kurs der NZZ?
Er ist ganz klar der Motor dieses Strategiewechsels. Ich bin überzeugt, dass Gujer politisch radikaler ist als ein Grossteil der Redaktion. Dies wiederum wirft die Frage auf, was all diese Leute, die nicht davon begeistert sein dürften, dass ihr Chefredaktor den Höcke an die Macht schreiben will, bereit sind mitzutragen. An welchem Punkt werden sie sagen: «Nicht mit mir». Gibt es ihn?
Es ist die Frage, wie viel jemand auszuhalten bereit ist für einen sicheren Job in einer Redaktion.
Und was man sich alles einzureden vermag an Ausflüchten und Rechtfertigungen. Gujer wurde 2015 vom Verwaltungsrat als Chefredaktor eingesetzt. Quasi als das kleinere Übel, nachdem Markus Somm am Widerstand der Redaktion gescheitert war. Retrospektiv kann man darüber streiten, ob er wirklich das kleinere Übel ist. Es erschien mir immer vollkommen offensichtlich, dass Eric Gujer sich allerhöchstens in zweiter Linie für Schweizer Politik interessiert. Die Schweiz ist ihm zu unbedeutend. Er möchte im Kanzleramt Angst und Schrecken verbreiten, nicht im Bundeshaus. Für seine Ambitionen hat er eigentlich das falsche Publikum. Deshalb schafft er sich jetzt in Deutschland das Publikum, um das es ihm geht.
Die NZZ will in Deutschland wachsen und setzt dort auf eine digital-only Strategie, um neue Abonnent:innen zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Zeitung in Deutschland publizistisch auftreten. Eine legitime Strategie.
Natürlich, das Wachstumsziel ist die offizielle Rechtfertigung. Seltsamerweise ist es unklar, ob die Deutschlandstrategie die ökonomisch nachgeschobene Rechtfertigung für das ideologische Projekt von Eric Gujer ist. Oder ob Gujers ideologisches Projekt tatsächlich die nachgeschobene Umsetzung einer verblüffenden Marktanalyse darstellt, die zum Schluss kam, dass das Traditionsblatt des Schweizer Bürgertums nur überleben kann, wenn es plötzlich den deutschen Markt erobert.
Was ist Ihre Einschätzung?
Der Verlag verkauft die Strategie als kommerziellen Erfolg. Wenn ich den ideologischen Furor des Herrn Gujer beobachte, habe ich allerdings gewisse Zweifel, ob hinter der Deutschlandstrategie tatsächlich rein ökonomische Motive stehen. Es gibt allerdings ein Argument dafür, dass es tatsächlich ums Geschäft geht.
Nämlich?
Die ideologischen Widersprüche der NZZ sind inzwischen dermassen grotesk geworden, dass sie allen Mitgliedern der Redaktion bewusst sein müssen. Einerseits schreiben sie mit allem, was sie haben, die AfD hoch, welche in Europa quasi der verlängerte Arm von Putin ist. Gleichzeitig ist Eric Gujer jedoch ein entschlossener Fürsprecher der Nato, der Wiederbewaffnung Europas und der transatlantischen Härte gegenüber Putin.
Wie geht das zusammen?
In seinem neuen Buch «Das Prinzip Trotzdem» vermutet Roger de Weck – ich denke richtigerweise –, es gehe darum, eine Marktlücke zu besetzen: Man will dahin gehen, wo weder FAZ noch Welt sich hinbewegen können, an den äusseren rechten Rand, wo ein AfD-affines Bürgertum abgeholt werden soll. In diesem sumpfigen Teich am rechten Rand hat die NZZ ihre Wachstumsnische. Grundpfeiler des Liberalismus wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Schutz der Medienvielfalt müssen dann halt etwas zurücktreten. Eine extrem unerfreuliche Entwicklung.
«Selbstverständlich ist es die Aufgabe eines bürgerlichen Blattes, auf die Stadtregierung einzuprügeln und als Gegenstimme zu wirken.»
Daniel Binswanger
Trotz der klaren Positionierung ist die NZZ nach dem SRF und Le Temps im Qualitätsranking der Schweizer Medien auf dem dritten Platz. Wie geht das zusammen?
Die Tragödie ist: Die NZZ ist immer noch die qualitativ am höchsten stehende Schweizer Tageszeitung, da gibt es keinen Zweifel. Überall, sogar im Feuilleton, erscheinen weiterhin exzellente Texte. Diese schaffen es in der Regel einfach nicht mehr oben auf die Webseite, weil dort die politische Positionierung umgesetzt und die Kulturkämpfe ausgefochten werden müssen.
Viele schätzen die NZZ für ihre Auslandsberichterstattung.
Ja, auch diese ist in vielen Aspekten immer noch exzellent. Für Deutschland und das Berliner Büro würde ich das zwar beim besten Willen nicht mehr sagen, aber in der NZZ-Publizistik ist das ja eigentlich auch nicht mehr Ausland.
Meinungs- und Debattenbeiträge machen einen Grossteil der NZZ aus. Auch Sie schreiben für die Republik wöchentlich einen Kommentar. Wie viel Meinung verträgt eine Zeitung?
Darauf gibt es keine absolute Antwort. Kommentar und Meinung sollen sicher nicht die zentralste Funktion eines Medienproduktes sein – sondern die Recherche und die Analyse. Allerdings gibt es auch Überschneidungen, eine strikte Trennung in Meinungen und Tatsachen gibt es nicht. Es gibt gut dokumentierte und gut begründete Texte – und es gibt die anderen. Was man heute «Meinung» nennt, sind häufig einfach Statements ohne Unterbau, die sich damit begnügen, an irgendwelche Vorurteile zu appellieren. Das ist dann völlig wertlos. Texte jedoch, die eine dezidierte Haltung haben, diese Haltung aber auch mit elaborierten Argumenten plausibel machen können, sind völlig legitim.
Die NZZ führt national und international einen permanenten Kulturkampf gegen Gendersprache, «Wokeismus» und Cancel Culture. Ich finde diese «moralische Hysterie» – um Adrian Daub zu zitieren – unglaublich ermüdend. Das Schauspielhaus war ihre grösste kulturpolitische Schlacht der letzten Jahre. Die Intendanz von Benjamin Blomberg und Nicolas Stemann war eigentlich ein unglaubliches Geschenk für die NZZ: Endlich einmal schien man eine konkrete Manifestation des doch recht imaginären Feindes vor der Flinte zu haben. Und konnte sie mit Feuereifer aus der Stadt jagen.
Die NZZ kann aber nicht über die Absetzung der Intendanz am Schauspielhaus entscheiden.
Nein, aber sie haben mit ihrer Berichterstattung ein Narrativ geschaffen – und die Stadtregierung hat am Ende mitgemacht. Die Kulturpolitik ist traditionellerweise der Ort, wo die sozialdemokratische Stadtregierung ihren Pakt mit den bürgerlichen Eliten zementieren kann. Die Stadt Zürich bezahlt sehr viel Geld für die Kulturinstitutionen, überlässt diese der Zürcher Bourgeoisie dann aber als Spielwiese.
Als bewusste Strategie?
Jedenfalls hat man die institutionellen Strukturen des Kulturlebens bis heute nie überholen wollen. Schauspielhaus, Kunsthaus, Kunsthalle, Tonhalle, Neumarkt und wie sie alle heissen, sind privatrechtlich organisiert, das heisst es sind Aktiengesellschaften oder Vereine. Das ist eigentlich absurd. Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, weshalb das Schauspielhaus Zürich, das fast ausschliesslich von der Stadt Zürich finanziert wird, eine private Aktiengesellschaft sein soll.
Für die künstlerische Unabhängigkeit gegenüber dem Staat?
Mäzenatentum, das wirklich auf privatem Geld beruht, ist unabhängig, nicht Institutionen, wo Vertreter:innen des Zürichberg fröhlich mitentscheiden, aber die Stadt Zürich alles bezahlt. Echte Unabhängigkeit müsste man anders regeln. Warum sollen irgendwelche Damen und Herren der besseren Gesellschaft nicht unter zahlreichen Einflüssen stehen? Für die Stadtregierung ist es jedoch bequem, denn immer, wenn etwas nicht richtig läuft, kann sie sagen, oh wie schlimm, dumm gelaufen, aber wir entscheiden das ja nicht. Das ist privat. Und man kann dann auch einem NZZ-Narrativ Folge leisten – ohne dass die SP-Basis aufbegehren würde.
Zusammen mit der FDP ist die NZZ die einzige schlagkräftige Opposition im linksgrünen Zürich. Als Korrektiv kommt den beiden eine wichtige demokratische Rolle zu. Einverstanden?
Selbstverständlich ist es die Aufgabe eines bürgerlichen Blattes, auf die Stadtregierung einzuprügeln und als Gegenstimme zu wirken. Demokratie funktioniert immer nur dann, wenn es Kontroversen gibt zwischen mindestens zwei Lagern: ein rechtes und ein linkes, die einen möglichst konstruktiven, möglichst fairen, möglichst informierten, möglichst rational geführten Disput über die besten Lösungen austragen. Die Stadt Zürich braucht die NZZ. Aber sie braucht eine NZZ, die nicht Opportunismus, sondern Rückgrat zeigt und den authentischen Werten des Schweizer Freisinns verbunden bleibt.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1800 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Natürlich jederzeit kündbar.