Walter Angst: «Der Applaus der Bürgerlichen hat mich noch nie gestört»
2022 trat der erste und bisher einzige Stadtrat der AL zurück und die Frage nach einer erneuten Stadtratskandidatur für die Wahlen 2026 bleibt offen. Von Seiten der AL heisst es: «Unser Ziel, Zürich für alle offen zu halten, wollen wir in den Stadtrat hinein tragen.»
Sie sehen sich als «Pacemaker» der Stadtentwicklungspolitik. Die Alternative Liste (AL) ist seit ihrer Gründung im Jahr 1990 fester Bestandteil der städtischen Politik. Ihr Motto «Unruhe bewahren» prägt bis heute ihre Arbeit und ihre Haltung. Die Partei setzt auf bekannte linke Forderungen und betont gleichzeitig ihre Eigenständigkeit.
Nicole Wyss, AL-Kantonsrätin, erklärt: «Uns geht es nicht darum, ob ein Vorstoss von links oder von rechts kommt, sondern darum, alle Vorstösse auf ihren Sinn zu prüfen.» Diese Haltung führt dazu, dass die AL auch Koalitionen mit Bürgerlichen nicht ausschliesst – eine Strategie, die der AL auch Kritik einbringt. Wie 2022, als sie überraschend den Kauf des Uetlihofs ablehnte und damit die Abstimmung kippte.
Ein Parteipräsidium sucht man in der links-alternativen Bewegung vergebens, Entscheide würden im Plenum bestimmt, erklärt Walter Angst, Alt-Gemeinderat der AL. Zusammen mit Wyss erklären die beiden im Interview, warum sich die AL als staatskritisch versteht und warum auch die Bürgerlichen gelegentlich recht hat.
Jenny Bargetzi: Die AL stimmt häufig mit SP und Grünen, weicht aber gelegentlich ab und bringt damit deren Abstimmungspläne ins Wanken. Sehen Sie sich als kritische Oppositionspartei innerhalb des linken Spektrums?
Nicole Wyss: Uns geht es nicht darum, ob ein Vorstoss von links oder von rechts kommt, sondern darum, alle Vorstösse auf ihren Sinn zu prüfen. Natürlich sind unsere Themen im sozialpolitischen Spektrum angesiedelt. Wir wollen Dinge verändern und verbessern, wir wollen eine Stadt für alle, die lebenswert und inklusiv ist. Das ist unser Kompass.
Walter Angst: Wir sind keine Blockpartei. Wir diskutieren die Geschäfte, so wie in anderen Parteien auch. Vorschläge zu machen, die gut klingen, aus denen aber nichts wird – das interessiert uns nicht wirklich. Wir wollen Verbesserungen, die umgesetzt werden können.
«Es gibt sogar seltene Momente, in denen Stimmen aus der SVP mit ihren kritischen Bemerkungen recht haben.»
Walter Angst, ehemaliger AL-Gemeinderat
Der Gemeinderat hat im Jahr 2022 den Kauf des Uetlihofs überraschend zu Fall gebracht – auch wegen der AL, die kurz vor der Sitzung beschlossen hat, Nein zu stimmen und damit die Abstimmung gekippt hat. Was bedeutet Ihnen ein solches Ergebnis?
Angst: Ich war damals in der Rechnungsprüfungskommission, es war ein intensiver Prozess. Bei 1,2 Milliarden muss genau hingeschaut werden. Wir sahen, dass der Uetlihof einen sehr hohen Sanierungsbedarf hat. Es hat sich gelohnt, Fragen zu stellen, die sonst niemand gestellt hat: Wie viel mehr würde es uns kosten? Die Diskussion in der AL war intensiv und breit, aber am Ende haben wir Nein gestimmt, das war’s.
Den Bürgerlichen hat das gefallen.
Angst: Der Applaus der Bürgerlichen hat mich noch nie gestört. Um eine solide Mehrheit zu haben, reichen 63 Stimmen nicht aus. Da kann es positiv sein, dass die Mehrheitsbeschaffung nicht nach gewohnten Mustern verläuft. Es gibt sogar seltene Momente, in denen Stimmen aus der SVP mit ihren kritischen Bemerkungen recht haben.
Ist das eine bewusste Strategie, um sich von anderen linken Parteien abzuheben und eine eigenständige Position zu markieren?
Angst: Es ist bekannt, dass die AL eigenständig ist. Wir wollen aber keine Abgrenzung um der Abgrenzung willen, sondern unterscheiden uns von unseren linken Partner:innen darin, dass wir den Staat nicht als alleiniges Instrument der Politik sehen. Nicht alles, was der Staat tut, ist besser. Die Distanz zur Staatsgewalt wahren, ist Teil der Identität der AL seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sind für uns genauso wichtig wie staatliche Kontrolle und Organisation.
Aber Sie lehnen den Staat nicht völlig ab?
Angst: Nein, der Staat bleibt zentral. Wir sind überzeugt, dass städtische Unternehmen wie das ewz oder das Spital Triemli in öffentlicher Hand bleiben und nicht ausgelagert werden sollen.
Die AL will Werbung in der Stadt verbieten, was dazu führen könnte, dass internationale Konzerne davon profitieren, weil sich die Werbung auf Plattformen wie Google oder Meta verschiebt. Steht das nicht im Widerspruch zu Ihrem Grundsatz, nicht ins Ausland auslagern zu wollen?
Wyss: Die Auslagerung ins Internet findet schon längst statt. Wir wollen Räume schaffen, die vom Konsumzwang befreit sind. Orte, an denen man sich entwickeln kann, ohne ständig mit Werbung zugeballert zu werden.
«Wir brauchen auch die erfahrenen ‹Silberlocken›, die das Wissen und die Geschichte der Partei weitertragen und die jüngere Generation einführen.»
Nicole Wyss, AL-Kantonsrätin
Wir können doch selbst entscheiden, was wir glauben und kaufen.
Wyss: In der Stadt gibt es eine Überdosis an Bildmaterial. Wenn ich mit meinen Kindern durch die Stadt gehe, sehen sie überall Werbung. Und es bleibt nicht beim Betrachten, sie wollen es auch haben. Ohne diesen Dauerbeschuss würden sie die Stadt vielleicht ganz anders wahrnehmen.
Es geht Ihnen also hauptsächlich um die Kinder.
Wyss: Nein, stellen Sie sich vor, Sie wären von Armut betroffen. Überall, wo Sie hinschauen, sehen Sie, was Sie haben sollten, aber nicht können. Man wird ausgeschlossen. Das hat nichts mit Selbstbestimmung zu tun, denn man kann nicht einmal entscheiden, ob man mitmachen will. Es wird einem nur gezeigt, was man nicht hat und was man bräuchte, um dazuzugehören.
Die AL hat einen Generationenwechsel vollzogen und ist zugleich diverser geworden: Ihre Partei ist jünger und weiblicher geworden. Gleichzeitig fehlen die alten Aushängeschilder wie Richard Wolff. Wie gehen Sie damit um?
Wyss: Es wird sehr viel Gewicht darauf gelegt, dass in den Parteien weniger alte weisse Männer sitzen. Man braucht mehr Frauen, mehr Vielfalt, mehr jüngere Leute in den Räten. Das ist richtig. Aber wir brauchen auch die erfahrenen «Silberlocken», die das Wissen und die Geschichte der Partei weitertragen und die jüngere Generation einführen. Wir müssen aufhören, diese beiden Aspekte gegeneinander auszuspielen.
Angst: Wir brauchen Menschen, die sich engagieren wollen. Das ist nicht einfach. Es gelingt uns aber mittlerweile besser, jüngere Menschen und Frauen für ein Engagement in der AL zu gewinnen. Dieser Prozess wird nie zu Ende sein.
Der Wandel scheint mit einer Verschiebung der Themen einherzugehen: Während der Schwerpunkt früher auf dem Wohnungsbau lag, konzentriert sich die AL heute stark auf Gesundheits-, Sozial- und Schulthemen. Haben Sie Ihr wichtigstes Thema aufgegeben?
Wyss: Bildung und Gesundheit sind keine neuen Themen, sie waren für uns schon immer wichtig. Im Kantonsrat setzen wir uns für die frühkindliche Betreuung ein, im Gemeinderat für Tagesschulen, konkret mehr Mittel für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und für mehr Schulassistenzen.
Im Gemeinderat haben wir uns für über 50 gesundheitspolitische Themen eingesetzt, zum Beispiel für interkulturelle Dolmetscher:innen, Gesundheitskioske, Verhinderung der Auslagerung des Stadtspitals, Freundschaftsbänke. Wir reichen Vorstösse ein, die eine treibende Wirkung haben, die kleine Verbesserungen bringen. Aber der Wohnungsbau bleibt zentral und wir sind nach wie vor sehr aktiv.
Angst: Wir arbeiten auch an der Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO) und treiben die Umsetzung von Artikel 49b des Planungs- und Baugesetzes (PBG) im Kanton Zürich voran. Der Artikel verlangt einen Mindestanteil an bezahlbarem Wohnraum. Im Gemeinderat gibt es inzwischen eine Mehrheit, die unsere Vorschläge unterstützt. Wir wollen grosse Player wie die Halter AG mit ins Boot holen. Denn wer möchte, dass Altstetten nicht vom Geldadel geprägt wird, kommt an der Familie Halter nicht vorbei.
Kurzum: Wir sind Pacemaker der Stadtentwicklungspolitik. Deshalb haben die beiden anderen linken Fraktionen immer Interesse daran, uns von ihren Vorschlägen zu überzeugen.
«Unsere Interventionen sind geprägt von der Kritik am rot-grünen Stadtrat, der 35 Jahre lang regiert hat.»
Walter Angst, ehemaliger AL-Gemeinderat
Wer zum Beispiel?
Angst: Der SP-Präsident Oliver Heimgartner. Ihm ist es wichtig, dass wir seine AirBnB-Initiative unterstützen.
Und von wem erhalten Sie Unterstützung?
Angst: Der Mieter:innenbewegung, Urban Equipe, dem Mieter:innenplenum. Unsere Interventionen sind geprägt von der Kritik am rot-grünen Stadtrat, der 35 Jahre lang regiert hat. Die weitgehende Öffnung der alten Industriezonen und die wiederholten Aufzonungen unter Elmar Ledergerber und André Odermatt haben den Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt.
Worauf wollen Sie hinaus?
Angst: Die Arbeiten an der neuen Bau- und Zonenordnung (BZO) verdeutlichen diese Problematik. Geplant sind massive Aufzonungen in Gebieten, die bereits jetzt hohe Ausnützungsreserven aufweisen. Diese Massnahmen betreffen vor allem Viertel, in denen Menschen mit niedrigem Einkommen leben – wie etwa entlang der Überlandstrasse. Diese Ära der Stadtplanung, die von der alten SP geprägt war, hat zwar erhebliche Einnahmen für die Stadtkasse generiert, gleichzeitig aber viele Haushalte mit geringem Einkommen aus der Stadt verdrängt, da sie sich das Leben in Zürich nicht mehr leisten können. Der preisgünstige Wohnungsbau bleibt dabei stark hinter den Bedürfnissen zurück.
Ein weiteres Thema, das die Stadtbevölkerung bewegt, ist die Verkehrsberuhigung und Begrünung, wie zum Beispiel in der Weststrasse. Die ehemalige Verkehrsachse wurde zwar quartierfreundlicher, dafür sind die Mieten gestiegen. Wie kann dieses Problem gelöst werden?
Wyss: Wir brauchen mehr städtischen Wohnbau und Genossenschaften, die Wohnungen zu Kostenmiete anbieten. Verkehrsberuhigung und Begrünung sind wichtig, aber sie dürfen nicht zu steigenden Mieten führen. Der Wohnungsbau muss dem Profit entzogen werden, damit die Stadt für alle lebenswert bleibt.
Im Bereich der Mobilität wird der Ausbau von Velowegen und der Parkplatzabbau vorangetrieben. Gleichzeitig gibt es Widerstand, zum Beispiel durch Initiativen wie die der SVP. Es geht nur langsam voran.
Angst: Die Verkehrswende ist eingeleitet, die Richtung stimmt. Wir müssen aber dafür sorgen, dass die Verkehrswende inklusiv gestaltet werden kann.
Was bedeutet das konkret?
Angst: Die «Züri autofrei»-Bewegung sollte die Bedürfnisse von einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen in ihr Programm aufnehmen. Ein Beispiel ist der Brupbacherplatz, wo früher albanische und tamilische Familien in schlechten Wohnverhältnissen lebten. Heute sind sie verschwunden.
Wyss: Mobilität betrifft nicht nur den Transport, sondern auch andere Lebensbereiche, etwa die Schichtarbeit. Wenn der öffentliche Verkehr nicht zur Verfügung steht, ist das Auto oft die einzige Option – das betrifft rund 20 Prozent der Erwerbstätigen.
Das klingt wie der Parkplatzkompromiss der SVP.
Angst: Ganz und gar nicht. Wir haben viel zu viele Tiefgaragen und genug Platz, um die abnehmende Zahl der Autos unterzubringen. Es ist auch denkbar, die oberirdischen Parkhäuser in bezahlbaren Wohnraum umzuwandeln.
Wie könnte eine sozial gerechte Verkehrswende konkret umgesetzt werden?
Angst: Die Stadt muss so umgestaltet werden, dass Menschen, die im Schichtdienst arbeiten, wie zum Beispiel Pflegekräfte, Trampilot:innen und Polizist:innen, auch die Möglichkeit haben, in der Stadt zu leben. Für Sie sollte günstiger Wohnraum in der Nähe des Arbeitsplatzes verfügbar sein.
Ausserdem ist es Blödsinn, mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Deshalb müssen wir Autobahnen, die in die Stadt führen, abreissen und dort bezahlbare Wohnungen bauen. Zum Beispiel an der Pfingstweidstrasse.
«Es ist wichtig, Mehrheiten zu nutzen, um Vorschläge der Grünen oder der SP gegebenenfalls anzupassen und zu optimieren.»
Nicole Wyss, AL-Kantonsrätin
Wyss: Im Kantonsrat haben wir kürzlich einkommensabhängige Tarife für den öffentlichen Verkehr gefordert, damit dieser für alle erschwinglich wird: für Jugendliche, Familien und Arbeiter:innen. Gleichzeitig müssen wir die Arbeitsbedingungen der VBZ-Mitarbeiter:innen verbessern, denn viele werden durch lange Schichten und schlechte Arbeitszeiten abgeschreckt. Wir müssen jetzt nach vorne schauen und mutige Entscheidungen treffen. Die Verkehrswende und die Stadtentwicklung sollten differenziert angegangen werden. Es ist wichtig, Mehrheiten zu nutzen, um Vorschläge der Grünen oder der SP gegebenenfalls anzupassen und zu optimieren.
In einem Jahr, am 8. März 2026, finden die Stadtratswahlen in Zürich statt. Wird jemand von der AL kandidieren?
Wyss: Wir werden das im Vorstand besprechen.
Angst: Wir müssen nicht die Ersten sein. Unser Ziel, Zürich für alle offen zu halten, wollen wir aber auch in den Stadtrat hinein tragen.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.