Tempo 30, Vorkaufsrecht und Digitalisierung: Darüber stimmt Zürich ab
Mobilitätsinitiative, digitale Integrität, Prämienverbilligung und Vorkaufsrecht. Am 30. November entscheidet die Zürcher Kantonsbevölkerung über vier Vorlagen. Hier kommt die Übersicht.
Am 30. November stehen die nächsten Abstimmungen an. Über diese vier Vorlagen entscheiden die Stimmberechtigten im Kanton Zürich:
1. Krankenversicherungsgesetz 2. Digitale Integrität 3. Bezahlbare Wohnungen 4. Mobilitätsinitiative
1. Krankenversicherungsgesetz
Menschen mit wenig finanziellen Mitteln werden in Form von Prämienverbilligungen bei der Krankenkasse finanziell unterstützt. Die Höhe der Prämienverbilligung hängt vom Einkommen und Vermögen der versicherten Person ab und wird vom Bund und den Kantonen gemeinsam finanziert.
Die Vorlage fordert, dass der Kanton Zürich mehr Geld für die Prämienverbilligung ausgeben soll. Wenn die Vorlage angenommen wird, soll der Kanton gleich viel Geld ausgeben wie der Bund. Das würde den Kanton jährlich rund 50 bis 60 Millionen Franken kosten.
Pro:
Krankenkassenprämien sind für viele Haushalte eine grosse finanzielle Belastung. Eine Mehrheit des Kantonsrates will deshalb die Prämienverbilligung erhöhen. Es sei ein notwendiger Schritt, um die Kaufkraft von Haushalten mit tiefem und mittlerem Einkommen zu stärken, sagte Michael Bänninger (EVP).
Contra:
Der Zürcher Regierungsrat und eine Minderheit des Kantonsrates bestehend aus der FDP, SVP und der EDU lehnen die Vorlage ab. Die Vorlage bekämpft die Folgen der gestiegenen Prämien – nicht aber deren Ursachen. Die hohen Prämien seien auf die steigenden Gesundheitskosten zurückzuführen. «Die Erhöhung der individuellen Prämienverbilligung ist lediglich eine Symptombekämpfung», sagte Claudio Zihlmann (FDP).
2. Für ein Grundrecht auf digitale Integrität
Die Volksinitiative fordert, dass im Kanton Zürich ein neues Recht auf digitale Integrität als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen wird. Konkret sollen Menschen im digitalen Raum besser geschützt werden, zum Beispiel beim Datenschutz, bei der Sicherheit vor Überwachung oder dem Recht auf Vergessenwerden.
Auch verlangt die Initiative ein Recht auf «Offline-Leben» – staatliche Leistungen sollen nicht nur digital, sondern weiterhin auch auf Papier oder persönlich bezogen werden können.
Pro:
Digitale Technologien bergen Risiken wie Überwachung, Desinformation oder Missbrauch persönlicher Daten. Manuel Sahli (AL) sagte: «Für die Alternative Liste gelten Grundrechte grundsätzlich für jede:n und überall, sei es nun im öffentlichen, privaten oder digitalen Raum.»
Contra:
Der Kantonsrat und der Regierungsrat lehnen die Initiative ab. Sie sind der Meinung, dass die Formulierung der Initiative den Kanton zu stark einengt, die Effizienz der Verwaltung beeinträchtigt und falsche Erwartungen weckt.
Die digitale Integrität sei bereits durch die bestehenden Grundrechte ausreichend geschützt. Ausserdem gehe die Volksinitiative an den falschen Empfänger, sagte Roman Schmid (SVP). Seine Partei hätte es begrüsst, wenn die Initiative nicht im Kanton Zürich, sondern direkt in Bundesbern eingereicht worden wäre.
Trotzdem anerkennt der Kantonsrat einen gewissen Handlungsbedarf, um die Gefahren der Digitalisierung zu minimieren. Aus diesem Grund hat er einen Gegenvorschlag ausgearbeitet.
Gegenvorschlag Grundrecht auf digitale Integrität
Der Gegenvorschlag präzisiert das vom Initiativkomitee geforderte Rechte auf digitale Integrität. Falls der Gegenvorschlag angenommen wird, werden in der Kantonsverfassung folgende neue Rechte ergänzt:
- Das Recht auf Informationssicherheit. Das bedeutet, dass der Kanton Daten vor möglichem Missbrauch schützen muss.
- Das Recht, staatliche Leistungen wo immer möglich analog in Anspruch nehmen zu dürfen.
- Ein grundsätzliches Recht darauf, nicht ständig überwacht, vermessen und analysiert zu werden.
- Wenn eine Entscheidung ein Grundrecht einschränkt, muss sie in der Regel von einem Menschen getroffen werden. Sie darf also nicht ausschliesslich auf einem Algorithmus basieren.
Pro:
Die Mehrheit des Kantonsrates, bestehend aus den Links- und Mitteparteien, unterstützt den Gegenvorschlag. «Es ist klar, dass die digitale Integrität der Menschen auch im Kanton Zürich rechtlich verankert werden muss, und zwar als Grundsatz in der Verfassung», sagte Benjamin Krähenmann (Grüne).
Contra:
Aus Sicht des Initiativkomitees fehlen im Gegenvorschlag zentrale Schutzrechte für ein Offline-Leben und den Schutz vor maschineller Beurteilung. Auch seien die meisten anderen geforderten Rechte zu Empfehlungen degradiert worden.
Der Regierungsrat und eine Minderheit im Rat bestehend aus FDP, EDU und SVP lehnen sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag ab. Sollte der Kanton die Grundrechte auch im digitalen Raum wahren, entstehe ein riesiger Mehraufwand.
3. Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich
Die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich» will den gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnraum sowie Alterswohnungen fördern. Zu diesem Zweck sollen die Gemeinden ein kommunales Vorkaufsrecht für Grundstücke erhalten.
Das Vorkaufsrecht ermöglicht es einer Gemeinde, ein Grundstück selbst zu kaufen, selbst wenn bereits ein Kaufvertrag zwischen anderen Parteien besteht.
Pro:
SP, Grüne, EVP und AL sind für die Initiative. Mit der Initiative können die Gemeinden verhindern, dass Immobilienfirmen immer mehr Wohnraum aufkaufen und stattdessen selber mehr bezahlbare Wohnungen und neue Alterswohnungen schaffen. «Es ist unbedingt nötig, den Gemeinden im Kampf gegen die Wohnungsnot und gegen die Verdrängung der Einwohner:innen ein neues Werkzeug einzuführen», sagte Rafael Mörgeli (SP).
Contra:
Für den Regierungsrat und die Mehrheit im Kantonsrat, bestehend aus FDP, SVP, Mitte und EDU, wäre ein solches Vorkaufsrecht ein schwerer Eingriff in die Eigentumsgarantie und in die Wirtschaftsfreiheit. «Sie greift in die Vertragsfreiheit ein, ohne Gewähr, dass dadurch tatsächlich mehr bezahlbarer Wohnraum entsteht», argumentierte Doris Meier (FDP).
Aus diesem Grund hat der Kantonsrat einen Gegenvorschlag ausgearbeitet.
Gegenvorschlag mehr bezahlbare Wohnungen
Mit dem Gegenvorschlag will der Kanton die finanziellen Mittel für die kantonale Wohnbauförderung verdoppeln. Neu sollen es 360 statt 180 Millionen Franken sein. Mit dem Geld werden zinslose Darlehen an Genossenschaften und andere gemeinnützige Bauunternehmen vergeben. Damit wird der Bau von preisgünstigem Wohnraum gefördert.
Ein Vorkaufsrecht ist nicht Teil des Gegenvorschlags.
Pro:
Regierungsrat und Mehrheit des Kantonsrates sind dafür. Der Gegenvorschlag erhöht die finanziellen Mittel der kantonalen Wohnbauförderung deutlich.
Contra:
Nach Ansicht der Ratslinken ändert der Gegenvorschlag nichts an der Wohnungsnot. Es brauche Lösungen, die langfristig bezahlbaren Wohnraum schaffen, sagte Gianna Berger (AL). «Was uns hier als Gegenvorschlag präsentiert wird, ist in Wahrheit keiner, denn es geht nicht um dieselbe Sache.»
Will man dem Vorkaufsrecht die höchsten Chancen einräumen, empfehlen Genossenschaften, die Initiative anzunehmen und den Gegenvorschlag abzulehnen.
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4. Mobilitätsinitiative
Mit der Mobilitätsinitiative will der Kanton festlegen, dass ausschliesslich der Kanton Zürich die Geschwindigkeit auf Staatsstrassen und Strassen mit überkommunaler Bedeutung anordnen kann. Konkret will er damit verhindern, dass die Städte Zürich oder Winterthur Tempo 30 auf wichtigen Verkehrsachsen wie der Rosengartenstrasse einführen.
Pro:
Eine hauchdünne Mehrheit des Kantonsrates von 88 Ja- zu 87 Nein-Stimmen unterstützt die Mobilitätsinitiative. Die Mitte- und Rechtsparteien argumentieren, dass sich Tempo 30 negativ auf den Verkehr auswirke. «Der ÖV, die Pendler, das Gewerbe, die Handwerker und Rettungsdienste werden ausgebremst», sagte Ulrich Pfister (SVP).
Contra:
Aus Sicht der Städte Zürich und Winterthur greift die Gesetzesänderung ihre Autonomie an. Ein angepasstes Tempo sei die wirksamste und günstigste Massnahme gegen übermässigen Strassenlärm. «Die Strassen in der Stadt Zürich gehören uns selbst, der Kanton hat keine Kompetenz, darüber zu entscheiden», sagte die Zürcher Stadträtin Simone Brander (SP).
Sollte das Stimmvolk die Mobilitätsinitiative annehmen und Tempo 30 einschränken, erwägt die Stadt Zürich den Gang ans Bundesgericht.
Auch eine Minderheit des Kantonsrates hat gegen die Initiative das Referendum ergriffen. «Zürich und Winterthur sollen die Möglichkeit genommen werden, ihre Verkehrspolitik eigenständig zu gestalten und auf lokale Bedürfnisse einzugehen», sagte Daniel Rensch (GLP).
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Yann hat an der Universität Zürich einen Master in Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie abgeschlossen. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er bei 20Minuten, Tsüri.ch und der SRF Rundschau. Beim Think & Do Tank Dezentrum war Yann als wissenschaftlicher Mitarbeiter und in der Kommunikationsleitung tätig. Seit 2025 ist er Teil der Tsüri-Redaktion.