Hug-Di Lena: «Am Hauptbahnhof 50 zu fahren, ist schlicht absurd»
Knapp einen Monat vor der Abstimmung über die Mobilitätsinitiative führt die Stadt Zürich Tempo 30 rund um den Hauptbahnhof ein. Verkehrsplaner Thomas Hug-Di Lena erklärt, warum die Massnahme überraschend, aber sinnvoll ist und welche Auswirkungen sie auf den Verkehr hat.
Die Stadt Zürich will den Verkehr rund um den Hauptbahnhof bremsen. Auf 23 Strassen soll künftig Tempo 30 statt 50 gelten, darunter die Gessnerallee, das Central, die Limmatstrasse bis zur Zollbrücke und die Walchebrücke.
Der Entscheid der Stadt folgt mitten im Abstimmungskampf um die Mobilitätsinitiative. Sie sieht vor, dass künftig der Kanton – und nicht mehr die Stadt – entscheidet, ob Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen eingeführt werden darf.
Was der Stadtrat als Beitrag zur Verkehrssicherheit bezeichnet, sorgt bei den bürgerlichen Politiker:innen und Verbänden für Widerstand. Der Automobil-Club der Schweiz (ACS) hat laut SRF bereits Einsprache erhoben. Die Temporeduktion würde den Verkehrsfluss stark behindern, lautet das Argument. Die linken Parteien hingegen begrüssen den Entscheid der Stadtregierung.
Thomas Hug-Di Lena, Raum- und Verkehrsplaner an der ETH, ordnet die neuen Pläne rund um den Hauptbahnhof ein.
Jenny Bargetzi: Waren Sie vom Tempo-30-Entscheid der Stadt Zürich überrascht?
Thomas Hug-Di Lena: Ja, das hat mich doch überrascht, gerade so kurz vor der Abstimmung.
Weshalb, denken Sie, kommt der Entscheid gerade jetzt, wenige Wochen vor der Abstimmung zur Mobilitätsinitiative?
Vermutlich, um die Diskussion anzufachen und das Thema ins Zentrum zu rücken. Wäre es nicht politisch gewollt gewesen, wäre die Entscheidung sicherlich zu einem anderen Zeitpunkt getroffen worden. Tatsächlich ist es auch absurd zu glauben, am grössten Bahnhof der Schweiz, wo jeden Tag hunderttausende Menschen unterwegs sind, müsse man mit 50 Kilometern pro Stunde durchfahren können. Wenn irgendwo Tempo 30 notwendig ist, dann hier.
Macht die Tempodrosselung um den Hauptbahnhof überhaupt einen Unterschied, wenn doch der Verkehr tagsüber oft ohnehin stockt?
Doch Tempo 30 ist besonders wichtig in den Zeiten, in denen Fahrzeuge schneller unterwegs sind und das Unfallrisiko steigt – das passiert häufig am Abend. Zudem fehlt es rund um den Hauptbahnhof an einer guten Veloinfrastruktur, obwohl viele Velofahrende und Fussgänger:innen unterwegs sind. Tempo 30 schützt genau diese Menschen.
Wäre also ein Nacht-Tempo-30 sinnvoller als eine ganztägige Regelung?
Tempo 30 in der Nacht wäre technisch möglich. Gleichzeitig wäre es aber nicht ehrlich. Die hohe Geschwindigkeit von 50 Kilometer pro Stunde verträgt sich schlicht nicht mit den grossen Menschenmengen rund um den Hauptbahnhof, unabhängig von der Tageszeit.
Die Sicherheit ist ein Grund für den Entscheid der Stadt. In fünf Jahren hätten sich rund um den Hauptbahnhof mehr als 700 Verkehrsunfälle ereignet. Ist Tempo 30 die beste Massnahme oder wären andere Mittel wirkungsvoller?
Tempo 30 ist schnell und kostengünstig, aber ein Mittel von mehreren. Eigene Veloinfrastruktur, Spurenabbau, breitere Trottoirs oder mehr Fläche für Fussgänger:innen wären ebenfalls wichtig. Aber solche Umbauten verzögern den Autoverkehr noch stärker. Tempo 30 ist ein Kompromiss, der schnell wirkt.
Wie würde sich das auf den öffentlichen Verkehr auswirken?
Busse fahren hier ohnehin langsam und die Trams sind meist eigentrassiert, mit engen Radien, vielen Weichen und vielen Haltestellen. Tempo 30 beeinflusst den ÖV hier kaum.
Wie erklären Sie die Tempo-30-Massnahme denjenigen, die täglich dort unterwegs sind – etwa Anwohner:innen oder Gewerbetreibenden?
Ich empfehle den Anwohner:innen, das Velo oder den Fussweg zu nutzen – oft ist man so schneller unterwegs. Für alle, die auf das Auto angewiesen sind, verändert sich die Fahrzeit um 20 bis 30 Sekunden. Solche Abweichungen gehen im normalen Verkehrsfluss unter und werden an der nächsten Ampel oder durch andere Faktoren meist ausgeglichen.
Thomas Hug-Di Lena ist Verkehrsplaner beim Zürcher Büro Urbanista. Er schreibt regelmässig eine Verkehrskolumne für Tsüri.ch.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.