Nach Regierungsrats-Absage: Gemeinderat will verletzten Kindern aus Gaza helfen
Der Kanton will sich nicht an der Hilfsaktion des Bundes für verletzte Kinder aus Gaza beteiligen. Jetzt soll die Stadt einspringen und Kinder im Stadtspital aufnehmen, fordert die linke Ratsmehrheit in einem überwiesenen Vorstoss.
Es war keine gewöhnliche Sitzung des Gemeinderats am Mittwoch.
Und das lag nicht nur an der Uhrzeit – das Stadtparlament tagte bis kurz vor Mitternacht –, sondern vor allem an einem besonderen Vorstoss, dessen Hintergrund so schwer wog, dass er manche Parlamentarier:innen sichtlich betroffen machte.
Gemeint ist ein Postulat der drei Fraktionen Grüne, AL und SP. Sie fordern den Stadtrat auf, zu prüfen, inwiefern sich die Stadt dafür einsetzen kann, Kindern aus Gaza im Rahmen der Rettungsaktion des Bundes zu helfen. Dieser hat Ende September entschieden, 20 verletzte Kinder und ihre Begleitpersonen hierzulande aufzunehmen und medizinisch behandeln zu lassen.
Während andere Kantone wie Aargau, Bern oder Zug sich zur Aufnahme bereit erklärten, entschied sich der Zürcher Regierungsrat dagegen, unter anderem wegen «erheblichen Sicherheitsbedenken». Eine Verbindung einzelner Personen zur Hamas könne nicht ausgeschlossen werden, hiess es.
Gegen diesen Entscheid stellte sich nun die linke Ratsmehrheit.
«Es geht um Menschlichkeit», sagte Severin Meier (SP), Mitinitiant des Vorstosses. Es sei richtig und wichtig, dass die Schweiz 20 Kinder aus Gaza aufnimmt, doch gehe weit mehr. Auch Zürich solle einen Beitrag leisten.
«Wir haben ein Stadtspital, wo Kinder betreut werden könnten», so Meier. Ausserdem gebe es noch andere Möglichkeiten für Zürich, etwas zu tun, beispielsweise durch personelle, administrative oder finanzielle Unterstützung anderer Kantone.
Das Postulat sei deshalb bewusst offen formuliert worden. Darin steht: «Die Stadt Zürich soll Verantwortung übernehmen und aufzeigen, dass sich die grösste Stadt des Kantons aktiv an humanitären Aufgaben beteiligt. Die Aufnahme verletzter oder kranker Kinder ist organisatorisch machbar, medizinisch dringend notwendig und humanitär geboten.»
«Wieso nehmt ihr keine Kinder aus dem Sudan auf?»
Samuel Balsiger, SVP-Gemeinderat
FDP und SVP liessen keinen Zweifel an ihrer Ablehnung. Die FDP sprach vom «linkspopulistischen Zeitgeist». Stefan Urech (SVP) sagte, es sei absurd und völlig ineffizient, Menschen nach Zürich zu fliegen und hier zu behandeln. «Diese Leute bleiben hier und werden nie abgeschoben – never ever.»
Samuel Balsiger (SVP) setzte noch einen drauf und bezeichnete die Aktion als «Hamas- und Terrorpropaganda» und warf den Linken vor, «Wahlkampf mit zerbombten Kindern» zu machen. «Wieso nehmt ihr keine Kinder aus dem Sudan auf?», fragte Balsiger.
Das schliesse sich nicht aus, entgegnete Selina Walgis (Grüne). «Es ist nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.» Zudem werde man bei der Budgetdebatte sehen, wer für eine Erhöhung der Gelder für humanitäre Hilfe stimme, und wer nicht.
Auf der linken Ratsseite war die Haltung klar. Von den 20 Kindern habe die Schweiz bisher sieben aufgenommen, sagte Dominik Waser (Grüne). «Sieben Menschen! Dass wir über diese Zahl überhaupt diskutieren, ist allein schon ein Armutszeugnis.» Wenn die Stadt wolle, könne sie Hunderte aufnehmen und Millionen für Gaza ausgeben.
«Die Haltung des Regierungsrats ist zum Fremdschämen», doppelte Tanja Maag (AL) nach. Besonders bewegt habe sie die Unterstützung jüdischer Personen für die Forderung. Diese hätten betont, aus eigener Familiengeschichte zu wissen, dass die Aufnahme in die Schweiz einen lebenswichtigen Unterschied machen könne.
«Wir haben seit heute ein Ratsmitglied, das sich als Rassist bezeichnet.»
Sophie Blaser (AL)
Uneinig zeigten sich die Fraktionen von GLP und Mitte/EVP, die schliesslich Stimmfreigabe beschlossen. Ronny Siev (GLP) sprach von «erheblichen Sicherheitsbedenken», insbesondere für die jüdische Community, der er selbst angehört. Parteikollegin Serap Kahriman betonte, dass diese Sorgen ernst genommen würden, gab aber zugleich zu bedenken, dass bei der Ablehnung auch antimuslimischer Rassismus eine Rolle spiele.
Bevor Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) erklärte, er nehme das Postulat gerne entgegen und werde «die Möglichkeiten der Stadt ausloten», sorgte noch eine Aussage für grössere Empörung. Es war ein Satz von Attila Kipfer (SVP), der auf den Vorwurf Linker reagierte, gewisse Voten der SVP seien rassistisch.
«Wenn ich ein Rassist bin, weil ich die Menschen in diesem Land schützen möchte, dann bin ich das gerne und mit Überzeugung», sagte er. Ein Tabubruch. Sophie Blaser (AL) kommentierte knapp: «Wir haben seit heute ein Ratsmitglied, das sich als Rassist bezeichnet.» Der Rat müsse wohl noch lernen, wie damit umzugehen sei.
Kurz vor halb zwölf überwies schliesslich eine Mehrheit aus SP, Grünen, AL sowie Teilen der GLP und Mitte/EVP den Vorstoss mit 77 zu 40 Stimmen an den Stadtrat.
Weitere Themen aus dem Rat
- Klimadebatte vor Ratsbeginn: Anlässlich der 30. Klimakonferenz in Brasilien forderten die Grünen in einer Fraktionserklärung vor Ratsbeginn mehr Einsatz für den Klimaschutz. Das löste eine hitzige Debatte aus: SVP-Mitglieder spielten den Klimawandel runter, etwa Johann Widmer, der spottete: «Ich habe bereits fünf Weltuntergänge überlebt – so viel zum Thema Klimawahn!» Die Stadt solle sich «lieber um die wirklichen Probleme» kümmern. Das sorgte bei der linken Ratsseite für Empörung. «Die Verneinung der Umweltkatastrophe ist ignorant», sagte David Garcia Nuñez (AL). «Wir stehen vor einer der gravierendsten Krisen unserer Gesellschaft.» Roland Hohmann (Grüne) verwies auf neue Klimaszenarien, welche ausführlich die Gefahren des Klimawandels auf die Schweiz aufzeigen.
- Doch kein Verkauf von Energie 360°? Die Stadt Zürich will ihren Energieversorger Energie 360° an die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) verkaufen. Dieser Schritt sorgte im Gemeinderat für Kontroversen. Anlass zur Diskussion gab ein Nachtragskredit von einer knappen Million Franken, den Stadtrat Michael Baumer (FDP) beantragte, um die Verkaufsverhandlungen weiterzuführen. «Ein Verkauf von städtischer Infrastruktur ist nicht in unserem Sinn», sagte Tanja Maag (AL). Dominik Waser (Grüne) meinte, es gebe schlichtweg noch zu wenig Informationen, um einen Verkauf zu beurteilen. Felix Moser (Grüne) kritisierte den Stadtrat für sein «intransparentes Vorgehen». Johann Widmer (SVP) hielt dagegen: «Die Linken wollen den Kauf sabotieren!» Und Stadtrat Baumer verteidigte sich. Es gehe lediglich darum, «seriös abzuklären, ob es überhaupt eine Kaufofferte gibt». Schliesslich wurde der Nachtragskredit mit 75 zu 44 Stimmen abgelehnt.
- Drehscheiben sollen bleiben: Die Drehscheiben wurden 2022 ins Leben gerufen, um Begegnungsorte in Zürcher Quartieren zu schaffen und den Informationsaustausch zu fördern. Dass der Stadtrat das Pilotprojekt per Ende 2025 einstellen will, passt den Ratslinken nicht. Die Drehscheiben stärkten nicht nur die Kooperationskultur, sondern auch das Vertrauen in die städtischen Strukturen, sagte Tanja Maag (AL). «Wie kann es sein, dass eine rotgrüne Stadtregierung dieses Potenzial nicht erkennt?» Maag sowie weitere Gemeinderät:innen aus SP und Grünen fordern in einer Motion den Weiterbetrieb der Drehscheiben. Stadtrat Raphael Golta (SP) lehnte ab: Das Verhältnis zwischen Nutzen und Aufwand stimme nicht. Samuel Balsiger (SVP) meinte, die Drehscheibe in Altstetten, wo er wohne, sei «immer leer». Flurin Capaul (FDP) witzelte: «Die Drehscheibe dreht sich um sich selbst, aber nicht um die Anliegen der Bevölkerung.» Dennoch wurde die Motion mit knapper linker Mehrheit dem Stadtrat überwiesen.
- Pinocchio erhält mehr Geld: Die Beratungsstelle Pinocchio bietet psychologische Unterstützung für Eltern von Kindern im Alter von 2 bis 14 Jahren. Der Stadtrat beantragte dem Gemeinderat, den Verein weiterhin mit 640'300 Franken pro Jahr zu unterstützen. Eine Mehrheit von AL bis FDP, mit Ausnahme der GLP, setzte jedoch eine Erhöhung auf 810'300 Franken jährlich durch. «Die Nachfrage ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, zudem ist die Miete hochgegangen», begründete Hannah Locher (SP) den Entscheid.
- Pilotprojekt CMplus wird verstetigt: Das Programm unterstützt Mitarbeitende der Stadtverwaltung mit gesundheitlichen Einschränkungen bei der beruflichen Wiedereingliederung. Laut Stadtrat Daniel Leupi (Grüne) handelt es sich um ein «Erfolgsprojekt»: 77 Prozent der Teilnehmenden fanden wieder eine Stelle. Der Stadtrat beantragte am Mittwoch dem Gemeinderat, das Programm ab 2026 mit jährlich 600'000 Franken dauerhaft zu finanzieren. Alle Parteien ausser die SVP unterstützten dies.
- Mehr Sicherheit für Böötler:innen: Beim Hönggerwehr sollen die provisorischen Ein- und Auswasserungsstellen für Schlauchboote durch dauerhafte Anlagen ersetzt werden. «Diese Bauten sind für die Sicherheit zentral», sagte Markus Knauss (Grüne). Der Stadtrat beantragte dafür einen Zusatzkredit von 1,67 Millionen Franken, den eine grosse Mehrheit des Gemeinderats bewilligte. Die Bauarbeiten starten im Winter 2025 und sollen bis Sommer 2026 abgeschlossen sein.
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Studium der Politikwissenschaft und Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen beim Branchenportal Klein Report und der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), zuletzt als Co-Redaktionsleiter. Seit 2023 medienpolitisch engagiert im Verband Medien mit Zukunft. 2024 Einstieg bei Tsüri.ch als Autor des Züri Briefings und Berichterstatter zur Lokalpolitik, ab Juni 2025 Redaktor in Vollzeit. Im Frühjahr 2025 Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz in Berlin.