Stadt beendet Projekt für Quartierbevölkerung trotz positivem Feedback

Die Stadt schliesst nach dreieinhalb Jahren die zentralen Anlaufstellen für die Quartierbevölkerung in Oerlikon und Altstetten, weil eine langfristige Fortführung nicht gerechtfertigt sei. Eine fadenscheinige Begründung kritisieren die Betreiber:innen der Drehscheibe im Kreis 9.

Nina Büsser und Daniel Zeller bauten seit 2022 die Drehscheibe in Grünau/Altstetten auf. (Bild: Isabel Brun)

Daniel Zeller sitzt auf dem grossen Sofa mitten im Raum und hört zu. Sein Gegenüber, eine ältere Frau namens Tina, erzählt von ihren Plänen für den Tag, beklagt sich über die Hitze, schwärmt von ihrer neuen Wohnung. Diese habe sie nur dank Zeller und seinem Team bekommen, ist sie sich sicher. Dass es die Anlaufstelle «Drehscheibe»  in Altstetten bald nicht mehr geben wird, bedauert die Seniorin zutiefst.

Vergangene Woche hat die Stadt bekannt gegeben, das gleichnamige Pilotprojekt nach dreieinhalb Jahren Laufzeit per Ende 2025 einzustellen. Die Nachfrage sei «gemessen an den zu erwartenden Projektkosten für eine stadtweite Einführung zu gering ausgefallen», so die Begründung des zuständigen Sozialdepartements. 

Für Daniel Zeller und Nina Büsser, die zusammen die Drehscheibe Grünau/Altstetten leiten, kein stichhaltiges Argument. «Ein solches Angebot aufzubauen, benötigt mehr Zeit», kritisieren die Sozialarbeitenden. 

Skeptische Quartiervereine

Die Drehscheiben, wie die Anlaufstellen offiziell heissen, wurden 2022 von der Stadt als Projekt auf Zeit ins Leben gerufen, mit dem Ziel, neue Begegnungsorte in den Quartieren zu schaffen. Sie sollten den Informationsaustausch und die lokale Vernetzung unterstützen.

Während das Angebot in Zürich Oerlikon städtisch geführt wird, steht hinter der Drehscheibe in Grünau/Altstetten ein privater Trägerverein. 1,9 Millionen Franken liess sich die Stadt das befristete Projekt insgesamt kosten. 

Geld, das man sich hätte sparen können, findet Daniel Zeller, wenn man die Evaluation in einem derart frühen Stadium durchführe. «Quartierarbeit ist auch Beziehungsarbeit – und diese basiert auf gegenseitigem Vertrauen», sagt er. Das entstehe nicht von heute auf morgen. 

Ihre Legitimation müssten sie sich aufbauen: Die Quartiervereine sind laut Zeller teils nicht erfreut über das Projekt, sehen ihre Kompetenz infrage gestellt. Doch Zeller betont: «Quartiervereine leisten wichtige Arbeit, aber ihnen fehlen Ressourcen, um ein Angebot in diesem Rahmen umzusetzen.» Sie selbst hätten sich nie als Konkurrenz, sondern als Ergänzung gesehen.

In den Drehscheiben findet die Stadtbevölkerung Informationen zu verschiedenen Angeboten. (Bild: Isabel Brun)

Deshalb verzichtete der Verein beispielsweise darauf, eigene Veranstaltungen zu organisieren, sondern nahm eine Vermittlerrolle ein; wies die Bevölkerung auf Angebote und Events hin oder unterstützte städtische Ämter bei Entscheidungen mit Fachwissen.

Diese Arbeit sei von vielen sehr geschätzt worden, sagt auch Nina Büsser. Sie ist ebenfalls Teil des Teams der Drehscheibe in Altstetten. Ihrer Ansicht nach fällt mit dem Ende des Projekts ein wichtiger Bestandteil des demokratischen Systems weg. «Es braucht einen übergeordneten Blick auf Veränderungen in einem Quartier, nur so können alle Ansprüche berücksichtigt werden», so Büsser. 

Stadtsoziologin sieht in Projekt wichtige Investition

Erkenntnisse aus der Stadtforschung stützen Büssers Wahrnehmung. «Quartiervereine vertreten die Interessen der Bewohner:innen, Quartierkoordination hingegen hat eine intermediäre Funktion», sagt die Stadtsoziologin Stephanie Weiss.

Plattformen wie die Drehscheiben stärken ihr zufolge die Demokratie, indem sie Know-how bündeln und es der Bevölkerung zur Verfügung stellen. Wichtig sei, dass das Angebot sowohl physisch als auch digital nutzbar sei – so wie es auch beim Projekt «Drehscheiben» umgesetzt wurde.

Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Stadt schon nach dreieinhalb Jahren die Plattform wieder einstellt, so Weiss. In der Forschung sei längst bekannt, «dass die Arbeit in den Quartieren sehr viel Zeit und Beständigkeit braucht, bis sich der Nutzen auszahlt». Sie erwähnt Beispiele aus Städten wie Bern und Luzern, wo solche Koordinationsstellen schon seit über 20 Jahren bestehen.

Der Standort in Altstetten befindet sich an der Hohlstrasse. Daniel Zeller hätte den stark frequentierten Lindenplatz vorgezogen. (Bild: Isabel Brun)

Dabei galt Zürich einst als Vorreiterin: Ende der 90er-Jahre führte die Stadt die «Quartierkoordination» ein. Eine eigene Dienstabteilung, die sich in der Quartierentwicklung und für ein vielfältiges Quartierleben engagieren sollte. 2018 wurde die Abteilung schliesslich aufgelöst, nachdem es laut NZZ immer wieder zu Spannungen mit den Quartiervereinen gekommen war. Seither ist das Büro für Sozialraum und Stadtleben zuständig. Doch eine lokale Anlaufstelle für die Stadtbevölkerung fehlt.

Dabei wäre das entscheidend: «Eine diverse Stadt wie Zürich braucht Anlaufstellen in den Quartieren. Es sind professionell betriebene Treffpunkte, an die sich viele unterschiedlche Bevölkerungsgruppen wenden können, wenn sie Anliegen haben», so Weiss. Vor allem für Gruppen, die nicht artikulationsstark sind und oftmals von der Politik nicht erreicht werden, seien niederschwellige Angebote wichtig.

Weiss hält das von der Stadt angeführte Kosten-Nutzen-Argument gegen die Weiterführung der Drehscheiben für verkürzt: «Anlaufstellen und Quartierbüros sind eine langfristige Investition in das Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen – und damit ein demokratischer Auftrag an die Stadt.»

Stadt will bestehende Angebote weiterentwickeln

Was Daniel Zeller und Nina Büsser von der Drehscheibe im Kreis 9 irritiert: Der Evaluationsbericht, der im Rahmen des Pilotprojekts vom Beratungsunternehmen INFRAS durchgeführt wurde, fällt durchaus positiv aus.

Im Fazit heben die Autor:innen den Erfolg des Projekts hervor: «Wie die Erhebungen zeigen, haben die beiden Drehscheiben in kurzer Zeit schon viel aufgebaut und geleistet.» Erste Wirkungen seien bereits sichtbar: «Die Drehscheiben haben ein breites Angebot aufgebaut, das von verschiedenen Gruppen gut genutzt wird. Sie stiften vor allem aus Sicht der nutzenden Bevölkerung und der Quartierorganisationen einen Mehrwert als niederschwellige Anlaufstelle und Vernetzungsplattform.»

Im Bericht wird auch betont, dass es noch Zeit brauche, bis sich das Angebot voll etablieren würde und dass die Frage, ob die Drehscheiben nach dem Pilotversuch breiter eingeführt werden sollen, «eine politische bleibt». 

Darauf angesprochen, reagieren die Verantwortlichen bei der Stadt ausweichend. Der Stadtrat habe auf Grundlage des Berichts geprüft, wo die Stadt mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den grössten Nutzen für die Bevölkerung erzielen könne, schreibt der Mediensprecher des zuständigen Sozialdepartements, Stefan Rüegger, auf Anfrage. 

Bezüglich Dauer meint Rüegger: «Es kann davon ausgegangen werden, dass sich das Bild auch nach einer längeren Laufzeit nicht grundlegend geändert hätte.» Trotzdem sollen die Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt in bestehende Angebote einfliessen. 

Nur: Welche das sein werden, darüber ist man sich noch nicht im Klaren. «Wir wollen investieren, aber am richtigen Ort und mit den richtigen Angeboten», so Rüegger.

Für Daniel Zeller und Nina Büsser ein schwacher Trost. Ihre Zeit in der Drehscheibe Grünau/Altstetten endet Ende dieses Jahres. Bis dahin wollen sie ihre Arbeit so gut es geht weiterführen und Menschen wie Tina ein offenes Ohr bieten – trotz Ablaufdatum.

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2024-02-27 Isabel Brun Redaktorin Tsüri

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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