Verkehrstote in Zürich: Vision Zero bleibt eine Utopie
Vergangenes Jahr starben zehn Menschen auf Stadtzürcher Strassen. Dabei verfolgt Zürich das Ziel einer Stadt ohne Verkehrstote. Was läuft hier falsch? Unser Kolumnist Thomas Hug liefert Antworten.
Eigentlich verkündete die Stadt Zürich letzte Woche eine erfreuliche Nachricht: Zum zweiten Mal in Folge sind die Velounfälle zurückgegangen. Doch ausgerechnet bei dem grössten Ziel, das sich die Stadt gesetzt hat, ist sie nicht auf Kurs: der Vision Zero.
Zehn Menschen starben im Stadtzürcher Strassenverkehr.
Dabei wäre diese relativ einfach zu verstehen: Keine toten Kinder, Fussgänger:innen oder Velofahrer:innen im Strassenverkehr.
Bereits 2003 wurde dieses Ziel in den kommunalen Richtplan aufgenommen – und es zieht seine Berechtigung von ganz oben: Die Bundesverfassung garantiert allen Menschen in der Schweiz das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und bildet so die Grundlage für die Vision Zero in der Schweiz.
Doch auf nationaler Ebene hat sich Trägheit eingeschlichen. Mit dem Rahmenprogramm «Via Secura» wurden zwar zwischen 2012 und 2016 verschiedene Massnahmen für die Verkehrssicherheit umgesetzt, seither bewegt sich aber nicht mehr viel.
Das Ziel des Bundesamts für Strassen (ASTRA), bis 2030 nur noch 100 Getötete auf Schweizer Strassen zu haben, ist beim momentanen Umsetzungswille in weite Ferne gerückt. Selbst Vertreter:innen bezeichnen das Ziel als «ambitiös» und dass «noch viel getan werden muss».
Aktuell scheint auf nationaler Ebene aber eher das Gegenteil der Fall. Für Rentner:innen werden Fahrtauglichkeitstests reduziert, junge Menschen dürfen stärker motorisierte Töff fahren.
Eine breitere Einführung von Tempo 30 würde einen nächsten Meilenstein für die Verkehrssicherheit darstellen. Doch dagegen wehren sich viele Politiker:innen im Geschwindigkeitsrausch hinter der Windschutzscheibe.
Auch das Velo wird stiefmütterlich behandelt: Es gibt keinen minimalen Überholabstand und ein Signal für ein Überholverbot von Velos bleibt in der Schweiz Wunschdenken. Fun Fact: Die Autonation Deutschland verfügt über beides.
Fehlt die Lösungsbereitschaft auf nationaler Ebene, leiden vor allem Menschen in den Städten unter den Folgen. Hier bewegen sich die Verkehrsteilnehmenden auf besonders engem Raum.
In der Stadt Zürich krankt die Vision Zero vereinfacht gesagt an Lastwagen und Trams. So gab es in den letzten sechs Jahren nur ein Jahr (2021), in dem keine:n Velofahrer:in durch einen LKW getötet wurde.
Am besten dagegen helfen würde eine bessere Veloinfrastruktur: Wo der Veloweg genügend Abstand zur Fahrspur hat, sind die Velos auch für Lastwagenfahrer:innen besser sichtbar und die Reaktionszeit erhöht sich. Doch hier fehlt es meist am Platz – und manchmal an den Prioritäten.
Die Vision Zero erreichte letztes Jahr übrigens Bologna. Mit einem umfassenden Massnahmenpaket – Hauptbestandteil war flächendeckendes Tempo 30 – konnten sie tote Fussgänger:innen vermeiden.
Ob der Erfolg in Bologna lange währt? Der Blick nach Zürich dürfte sie kaum erfreuen, denn Bologna baut gerade an seiner ersten Tramlinie. Und Trams scheinen aktuell ein sicherer Wert zu sein, wenn es ums Sterben auf den Strassen geht.
Ein gutes Rezept dagegen: Nicht in Sicht. Auch Winterthur hatte in den Jahren 2022 und 2023 übrigens keine Verkehrstoten zu verzeichnen – vielleicht auch wegen des fehlenden Tramnetzes?
Wenn wir auf oft genannte Vision-Zero-Vorbilder in Europa blicken, folgt schnell die Ernüchterung. Oslo und Helsinki, die beide 2019 ohne tote Menschen zu Fuss oder auf dem Velo auskamen, haben dies seither nicht wiederholen können. Diese ernüchternde Entwicklung wirft die berechtigte Frage auf, ob es sich bei vielen Vision-Zero-Erfolgen nur um statistische Ausreisser handelte.
Die Realität zeigt: Vision Zero bleibt mehr Wunschdenken als Realität. Während einzelne Städte temporäre Erfolge feiern, fehlt es an nachhaltigen, systemischen Lösungen. Solange Verkehrspolitik von Einzelinteressen dominiert wird und nicht vom Grundrecht auf Unversehrtheit, werden wir weiter Todesopfer beklagen.
Die wahre Herausforderung liegt nicht in technischen Lösungen oder Infrastruktur allein, sondern in einem fundamentalen Umdenken: Mobilität muss dem Leben dienen, nicht umgekehrt.
Bis dieses Umdenken in Gesetzen, Stadtplanung und individuellen Entscheidungen verankert ist, bleibt Vision Zero das, was der Name schon sagt – eine Vision. Eine lebenswerte, aber ferne Vision, deren Verwirklichung viel mehr politischen Mut erfordert, als derzeit vorhanden ist.
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