Ungerechte Bildungschancen: Nun sind Lösungen gefragt

Nicht jedes Schulkind in Zürich hat die gleichen Chancen auf Bildung. Doch statt konkrete Lösungen zu diskutieren, kauen die Medien wissenschaftliche Erkenntnisse wieder. Ein Gastkommentar von Erziehungswissenschaftlerin Arbnora Aliu.

Schule Bildungschancen Bildung
Lediglich das Wiederkauen von wissenschaftlichen Erkenntnissen reiche nicht für einen Wandel im Bildungssystem, findet Arbnora Aliu. (Bild: Taylor Flowe / Unsplash)

Die erste Schulwoche in Zürich ist geschafft und 3580 Kinder haben mit dem Eintritt in den Kindergarten ihre Schullaufbahn begonnen. Viele von ihnen haben das erste Mal das Wort «Znüni» gehört und gemerkt, wie schwierig es ist, stillzusitzen. Sie alle werden die Schulzeit unterschiedlich erleben und wissen gar nicht, dass ihre Laufbahn bereits jetzt schon vorhergesagt werden kann. Warum? Weil unser Schulsystem ungerecht ist und aufgrund von bestimmten Eigenschaften wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder sozioökonomischem Status vieles vorbestimmt ist.

Kurz vor Schulbeginn hat der Tages-Anzeiger eine Langzeitstudie der Universität Bern zitiert, die zeigen soll, dass Kinder aus sogenannten bildungsfernen Haushalten vom Schweizer Bildungssystem diskriminiert werden: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien würden 38 Prozent eine gymnasiale Matura absolvieren, während es bei Familien ohne akademischen Hintergrund lediglich 14 Prozent sind. Neu ist diese Erkenntnis nicht und genau das ist das Problem.

«Ich habe es satt, noch mehr Diskussionen zu einem Thema zu lesen, das bereits seit Jahren gut erforscht ist.»

Arbnora Aliu, Erziehungswissenschaftlerin

Denn obwohl immer wieder öffentlich über die Chancenungerechtigkeit im Bildungssystem diskutiert und wissenschaftliche Erkenntnisse geteilt werden, wird viel zu wenig dagegen unternommen. Im Gegenteil: Statt sich an wissenschaftlichen Daten zu orientieren, setzen sich Politiker:innen über sie hinweg. So fordern beispielsweise bürgerliche Kräfte mit der Förderklasseninitative die Wiedereinführung von Kleinklassen – obwohl Bildungswissenschaftler:innen die Separation von Schüler:innen kritisieren.

Als Erziehungswissenschaftlerin habe ich es satt, noch mehr Diskussionen zu einem Thema zu lesen, das bereits seit Jahren gut erforscht ist. Wir müssen endlich etwas dagegen tun und aufhören, nur darüber zu sprechen. Und wenn wir darüber schreiben, dann bitte nicht mehr darüber, was Chancenungerechtigkeit ist, sondern was wir effektiv tun müssen, um die Situation für die betroffenen Kinder zu verbessern. Oder darüber, welche Rolle die Politik spielt und wie wir es schaffen, dass die Verantwortlichen wieder mehr auf die Wissenschaft hören, statt diese zu ignorieren. 

Die Medien haben einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft und die Politik, daher ist es wichtig, wie sie über Bildungschancen berichten. Für die 3670 Kinder sind Veränderungen wichtig, damit sie nicht nur eine Zahl in Studien und Zeitungsartikel bleiben und somit gerechte Chancen in ihrer Schullaufbahn erleben können. 

Von mir werdet ihr vermutlich Ende Februar wieder etwas lesen, weil dann die gymnasiale Aufnahmeprüfung in Zürich stattfindet und einmal mehr in den Medien darüber diskutiert wird, wie ungerecht das ganze Verfahren als Teil des Bildungssystems sei. 

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