Bürgerliche Politiker:innen wollen Kleinklassen zurück an Zürcher Schulen
Laut bürgerlichen Politiker:innen ist das integrative Schulsystem in Zürich gescheitert. Am Donnerstag reichen sie eine kantonale Volksinitiative ein, welche die Wiedereinführung von Förderklassen fordert.
Eine Schule mit Zukunft, das sei eine Schule mit Kleinklassen. Das zumindest findet das Komitee der Förderklassen-Initiative. Seit Januar sammelten Vertreter:innen der FDP, GLP und SVP gemeinsam mit Eltern sowie Lehrpersonen Unterschriften, um die Reform vor das Stimmvolk zu bringen. Am Donnerstag wird die Initiative eingereicht.
Während sich das Initiativkomitee über den Zuspruch aus der Bevölkerung freut, ziehen andere eine bittere Bilanz: «Eine inklusive Gesellschaft kann nicht gelingen, wenn schon in der Schule separiert und vorgelebt wird, dass wir eben nicht alle gleich sind», so Islam Alijaj. Als Kind besuchte der heutige SP-Nationalrat eine Sonderschule, weil man ihn wegen seiner Sprachbehinderung als geistig beeinträchtigt hielt. Die Initiative ist laut Alijaj ein Angriff auf eine bildungspolitische Errungenschaft.
Schulsystem in der Kritik
Im Jahr 2005 sagte die kantonale Stimmbevölkerung Ja zu mehr Integration in der Bildung. 70 Prozent sprachen sich damals für das neue Volksschulgesetz aus, das unter anderem vorsah, vom separierten Unterricht wegzukommen und lernschwache oder beeinträchtigte Schüler:innen in Regelklassen zu integrieren.
Fast zwei Jahrzehnte später wäre diese Zustimmung wohl weniger deutlich: Das integrative Schulsystem wird schon seit längerem kritisiert, weil es Lehrkräfte, Eltern und Schüler:innen überfordern würde. So hat eine Tamedia-Umfrage gezeigt, dass zwei Drittel von knapp 9000 Befragten dafür sind, Kleinklassen wieder einzuführen.
«Wir wollen das integrative Schulsystem nicht abschaffen», sagt die FDP-Gemeinderätin und Co-Präsidentin des Initiativkomitees, Yasmine Bourgeois, «aber es soll wieder möglich sein, Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen, bei denen eine Integration nicht passt, in Förderklassen – also kleineren Klassen – zu unterrichten». Eine Rückkehr in die Regelklasse soll aber unbedingt möglich bleiben. Bourgeois spricht dabei von einem «Zwischengefäss» zwischen Regelklassen und Sonderschulen und nicht von einer «Rückkehr der zur absoluten Separation».
Heute müssten zu viele Hebel in Bewegung gesetzt werden, um beispielsweise verhaltensauffällige Kinder aus der Klasse zu nehmen. Das führe zu Unruhe im Klassenzimmer und Frust auf allen Seiten, so Bourgeois. Die Schulleiterin zählt verschiedene Beispiele aus dem Arbeitsalltag auf, bei denen sich integrierte Schüler:innen in der Regelklasse nicht wohl gefühlt hätten: «Diese Kinder muss man intensiver unterstützen können.»
Wissenschaft warnt vor Stigmatisierung
Von Bourgeois Idee hält Islam Alijaj wenig. Natürlich gebe es auch Fälle, in denen die Situation für betroffene Kinder belastend sei. Auch verstehe er die Sorgen der Lehrpersonen. Doch das eigentliche Problem sieht Alijaj anderswo: «Lasst uns bitte über das Wie der integrativen Schule diskutieren, nicht über das Ob.» Denn welche Folgen eine Separation haben kann, musste Alijaj am eigenen Leib erfahren. Aufgrund seiner Behinderung wurde er schon früh auf eine Sonderschule geschickt.
Das habe sein späteres Leben geprägt: «Es hat mich unglaublich viel Zeit und Energie gekostet, den für mich vorgezeichneten Weg in eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen zu verlassen.» Dies soll anderen auch weiterhin erspart werden. Statt Förderklassen fordert der SP-Politiker deshalb mehr Ressourcen, «damit die integrative Schule gelingen kann».
Die Wissenschaft bestätigt das. «Studien zeigen, dass ein integratives Schulsystem, wenn es richtig umgesetzt wird, allen etwas bringt», sagt Arbnora Aliu. Die Erziehungswissenschaftlerin lehrt an einer Pädagogischen Hochschule zu inklusiver Bildung und muss immer wieder Aufklärungsarbeit leisten, weil sich angehende Lehrer:innen überfordert fühlen. «Der Druck auf die Lehrpersonen nahm in den letzten Jahren stark zu, entsprechend verzweifelt sind viele», so Aliu.
Trotzdem warnt die Forscherin davor, in der Konsequenz verhaltensauffällige oder lernschwache Schüler:innen aus der Regelklasse zu nehmen. Denn dies führe nicht zwangsläufig zu mehr Entlastung für Lehrpersonen, sondern lediglich zu mehr Stigmatisierung – zulasten der betroffenen Kindern.
Uneinigkeit bei Lehrpersonen
Ähnlich argumentiert der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV). Ende März sagte der ehemalige Präsident des ZLV, Christian Hugi, gegenüber dem Tages-Anzeiger: «Ich erwarte von diesem Vorschlag keinen grossen, im Schulalltag spürbaren Effekt.» Schon heute würden die Schulgemeinden solche Klassen bilden dürfen. Hugi meint damit sogenannte «Schulinseln». Störende Kinder und Jugendliche werden kurzfristig aus dem Klassenzimmer geschickt und kommen zu einer Lehrperson in einem anderen Zimmer im Schulhaus.
Zur Einreichung der Unterschriften möchte Hugis Nachfolgerin Lena Aerni keine Stellung beziehen. Sie bestätigt jedoch, dass der ZLV daran festhält, die Förderklassen-Initiative nicht zu unterstützen. Man werde sich wieder dazu äussern, wenn klar sei, dass die Vorlage definitiv vors Volk kommt.
Yasmine Bourgeois zeigt sich noch immer enttäuscht über die fehlende Mithilfe des Verbands. Zumal sein Pendant aus Basel eine ähnliche Volksinitiative unterstützt hatte. Nichtsdestotrotz habe man es geschafft, über 9000 Unterschriften zu sammeln, so Bourgeois. Sind 6000 davon gültig, kommt die Volksinitiative in den Kantonsrat und anschliessend vor die Zürcher Stimmbevölkerung.
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